Wenn man Mark Carney, dem Gouverneur der Bank of England, glaubt, droht Europa der Fluch langer Stagnation. Doch geht es der britischen Wirtschaft im Moment wieder leidlich. Sechs Monate vor der nächsten Unterhauswahl wird natürlich alles getan, um den leichten Aufschwung schönzureden und jeden Silberstreif am Horizont der weisen Politik von Premier David Cameron und Schatzkanzler George Osborne gutzuschreiben. Dass es trotz aller Anstrengungen nicht so rund läuft wie versprochen, liegt an den Kontinentaleuropäern und deren Wirtschaftspolitik. In der Eurozone spricht viel dafür, dass sie statt einer labilen Erholung erneut in die Rezession gleitet. Zum dritten Mal seit 2007, was man nur als Hang zur „Wellblech-Konjunktur“ deuten kann . Nach den Abs
Abstürzen 2009 und 2012 wäre das der dritte Einbruch in Folge, der triple-dip. Die Briten haben den gerade hinter sich.Kein Wunder, wenn die US-Amerikaner mit störrischer Ungeduld reagieren, da sie fürchten, erneut selbst im Stagnations- und Depressionssumpf zu landen. Die Regierung von Barack Obama geißelt das zögerliche Handeln der EU-Regierungen, allein die Europäische Zentralbank (EZB) kommt besser weg. Sie habe getan, was sie konnte, heißt es in Washington, und sei ein Stück weit dem Muster der US-Notenbank Fed gefolgt. Aber mit Geldpolitik allein lässt sich kein Wachstumspfad pflastern.Kurz vor dem G 20-Gipfel in Brisbane machte US-Finanzminister Jacob Lew seinem Ärger Luft. Die Europäer schienen immer noch nicht zu begreifen, dass sie mit ihrer sklerotischen Ausgabenpolitik die Weltwirtschaft schädigten. Die könne sich kein „verlorenes Jahrzehnt in Europa“ leisten. Das Motiv der Klage liegt auf der Hand: Die US-Ökonomie ist heute dank forcierter Anstrengungen in den letzten Jahren weit exportabhängiger als vor der Weltfinanzkrise 2008/09. Bei stolzen 13 Prozent liegt die Ausfuhrquote, also sorgen sich die Amerikaner um Absatzmärkte in der EU und in Asien. Abwertungen von Euro und Yen wurden als Anschubhilfe für die nationalen Ökonomien noch hingenommen – doch einmal ist jede Toleranz erschöpft.Menetekel JapanWerden sämtliche Wachstumsprognosen, die zum Jahresende um die Wette nach unten korrigiert werden, zusammengefasst, deutet alles für 2015 auf einen Trend zur Stagnation. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet mit einem deutlich schwächeren Wachstum weltweit und betrachtet die Eurozone gar als Risikofall für die Weltwirtschaft. Und dies nicht ganz zu Unrecht, denn mit Japan ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Erde erneut einer Rezession ausgesetzt. Im III. Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 0,4 Prozent. Auch Schwellenländer wie Indien und Brasilien bleiben Dynamik schuldig, allerdings schreiben postsowjetische Staaten wie die Ukraine ein noch traurigeres Kapitel des ökonomischen Abstiegs. Was, wenn da auch noch die EU-Ökonomien versagen?In Deutschland ist der Einbruch im II. Quartal 2014 noch nicht verwunden. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) zeichnet mit der „Konjunkturumfrage Herbst“ ein eher ernüchterndes Bild vom Zustand der deutschen Wirtschaft und den Konjunkturaussichten. Der übliche Rundruf unter etwa 2.900 Unternehmen spiegelt Wachstumsbrüche und Vorsicht. Die meisten Firmen wollen lieber keine Wette auf die Zukunft abschließen und halten sich in ihren Erwartungen bedeckt. Für das kommende Jahr rechnen nur noch 31 Prozent mit einem realen Produktionszuwachs, bei der Frühjahrsumfrage des IW waren es deutlich mehr – immerhin 53 Prozent. Die so vermittelte Stimmung lässt sich auch durch die Ausfuhraussichten nicht aufhellen. Nur 24 Prozent der befragten Unternehmen setzen für 2015 darauf, durch internationalen Handel mehr verkaufen zu können – vor sechs Monaten teilten diese Erwartung noch 34 Prozent. Fast ein Fünftel der Betriebe kalkuliert mit einem Rückgang. Die Bundesregierung pflegt dennoch weiter einen gedämpften Optimismus und korrigiert Wachstumsziele nur verhalten (s. Glossar), während sie von den fünf Wirtschaftsweisen gehörig abgewatscht wird. Die Große Koalition habe mit ihren Reformen – vor allem dem flächendeckenden Mindestlohn – den Wachstumsmotor abgewürgt, schreiben sie in ihrem Jahresgutachten. Nach dem neoklassischen Katechismus gibt es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit, sondern nur zu hohe und zu unflexible Löhne. So reimt sich eben Mindestlohn auf Jobverlust. Zur Remedur empfehlen die Topökonomen „mehr Vertrauen in Marktprozesse“, was nichts anderes heißt, als weiter auf unerbittliche Sparpolitik und deregulierende Strukturreformen zu setzen.Wende in Brisbane?Der trotz Schuldenbremse noch gegebene Finanzierungsspielraum sollte nicht genutzt werden, so die Mehrheit der Gutachter. Sonst gerate das Vertrauen in Gefahr. Allein der Ökonom Peter Bofinger hat es gewagt, diesen Unsinn mit mehreren Minderheitsvoten im Sachverständigenrat zu kontern. Er plädiert für das Naheliegende: mehr öffentliche Investitionen, besonders für die Infrastruktur, womit nicht allein der Straßenbau gemeint ist. Der Nachholbedarf in einer verrottenden Republik bleibt enorm, der Zins auf quasi Nullniveau. Überdies sind die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse gigantisch, doch fließen die 200 Milliarden Euro in niedrig verzinste Auslandskredite statt in inländische Investitionen. Leider macht Bofinger den Fehler, sich auf die rein ideologische Formel von „mehr versus weniger Staat“ einzulassen.Die Warnung vor einem verlorenen Jahrzehnt – das Beispiel Japans wirkt wie ein Menetekel – schreckt Kanzlerin Angela Merkel wenig. Zwar hat sie zusammen mit ihrem Finanzminister auf den Einbruch im II. Quartal reagiert und versprochen, ein paar Milliarden zusätzlich in die Hand zu nehmen, aber kosten dürfe das nichts, vor allem kein Geld. Vom Aberglauben an die wundertätige Kraft der schwarzen Null will man in Berlin nicht lassen und denkt wie die Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts. Wenn nur unsere Haushaltsbücher stimmen, ist alles bestens. Sollen jedoch Frankreich und Italien mehr sparen, müssen die Deutschen mehr investieren. Sonst trocknet die EU-Gesamtwirtschaft aus.Placeholder infobox-1Nur die Zentralbanker scheinen in Europa noch bei Trost zu sein. Mario Draghi hat gegen alle Widerstände das Richtige getan. Aber expansive Geldpolitik allein kann die Wirtschaft der Eurozone nicht aus der Depression holen. Ohne einen gleichzeitigen Wechsel zu expansiver Finanzpolitik versauert das schöne Geld in den Bankreserven. Ohne glaubwürdige Wachstumsinitiative kommt die EU nicht mehr aus einer seit sechs Jahren systematisch verschleppten Depression.Der G 20-Gipfel in Brisbane sollte die Wende einleiten. Tatsächlich haben sich die versammelten Staatschefs auf einen Kraftakt verständigt. Wenn man der Absichtserklärung Glauben schenkt, wollen die Teilnehmerstaaten bis 2018 zwei Billionen Dollar zusätzlich für öffentliche Investitionen in die globale Infrastruktur ausgeben und so der Weltkonjunktur aufhelfen. Merkel und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker haben dieses Finanzpaket mit geschnürt, ebenso Japans Premier Shinzō Abe und Chinas Präsident Xi Jinping. Kaum zu glauben – zwei Billionen Dollar, das scheint extrem viel, ist es aber nicht. Die globale Lücke an notwendigen Infrastrukturinvestitionen wird im Augenblick auf gut 70 Billionen Dollar geschätzt– also rund 100 Prozent des 2014 erwarteten globalen Bruttosozialprodukts.Placeholder authorbio-1