Nicht mehr Exportweltmeister wie noch vor Jahren, dafür „Exportüberschuss-Weltmeister“. 2011 und 2012 hat Deutschland die höchsten Ausfuhrüberschüsse weltweit erzielt und China klar auf Rang zwei verwiesen. In diesem Jahr wird es noch einmal einen neuen Rekord geben – ein Plus von 200 Milliarden Euro oder 7,2 Prozent der Wirtschaftsleistung. Bei fast allen relevanten Handelspartnern in Europa (ausgenommen Norwegen und die Niederlande) erzielen die deutschen Exporteure Überschüsse.
Weil aber Krisenländer wie Italien, Spanien oder Portugal nur noch in Maßen als Importeure von Belang sind, bekommen zusehends asiatische Nationen und Nordamerika die deutsche Warenflut zu spüren, Tendenz steigend. Damit einhergeht der Umstand, da
mstand, dass deutsche Investoren dank der kolossalen Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse zum größten Kapitalexporteur der Welt geworden sind. Kein Wunder, wenn es plötzlich Steine regnet aus diversen Glashäusern der Weltpolitik. In ungewohnt scharfem Ton hat gerade das US-Finanzministerium in seinem Halbjahresbericht an den US-Kongress Deutschland zum Hauptsünder für eine nicht sonderlich prosperierende EU erklärt, die Ausfuhrgiganten China und Japan hingegen mit Kritik verschont. Und das in einem Moment, da die Abschöpfungsmacht der US-Geheimdienste die Beziehungen zwischen Washington und Berlin ohnehin belastet.Dicker blauer BriefWörtlich heißt es im Papier des US-Finanzministers: „Deutschlands anämisches Wachstum der Binnennachfrage und seine Exportabhängigkeit behindern das Ausbalancieren in einer Zeit, da viele andere Länder der Eurozone unter schwerem Druck stehen, die Nachfrage einzudämmen und Import zu drosseln.“ Doch der Zwist um deutsche Exportstärke ist nicht neu. Frankreich als größter Handelspartner, der IWF, die OECD, die EU-Kommission, die US-Notenbank und die G20-Staaten haben Deutschland wiederholt für Unwuchten in der Weltökonomie (mit)verantwortlich gemacht und an den Pranger gestellt. Aus Brüssel ist bis Jahresende ein dicker blauer Brief fällig, da die Bundesrepublik zum dritten Mal in Folge die in der EU geltende Obergrenze von sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Handelsüberschüsse durchbricht. Für 2014 werden gar sieben Prozent prognostiziert, während die Eurozone lediglich mit einem Wert von 1,3 Prozent rechnen darf.Die Bundesregierung und die ihr verbandelten Unternehmerverbände reagieren mit dem oft geübten „Kannnitverstan“. Begreiflich, es geht um die zentrale Lebenslüge der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik seit Jahr und Tag. Man bleibt mit der inländischen Nachfrage bewusst hinter der inländischen Produktion zurück und hält das für eine Tugend. Tatsächlich lebt Deutschland durch seine extreme Exportabhängigkeit ständig unter seinen Verhältnissen, da es – gemessen an Produktivität und Wirtschaftsleistung – zu wenig importiert, zu wenig konsumiert und viel zu wenig im eigenen Land investiert. Was freilich in Berlin nicht gern gehört wird. Stattdessen wird von einem angeblichen deutschen „Jobwunder“ fabuliert und über die in die Partnerländer der EU exportierte Arbeitslosigkeit geschwiegen. Man will nicht wahrhaben, kein Wohltäter und Zahlmeister für andere zu sein, sondern stattdessen auf Kosten anderer zu leben und deren Wirtschaft zu schaden.Aus Stärke wird SchwächeAußenhandelsdefizite oder -überschüsse lassen sich verkraften, fallen sie moderat aus und sind vorübergehender Natur. Auf Dauer jedoch kann eine liberale Weltwirtschaftsordnung mit der Spaltung in permanente Überschussländer (Deutschland, China) und permanente Defizitländer (USA, Süd- und Osteuropa) nicht leben – eine Währungsunion wie die Eurozone schon gar nicht. Sicher wird die US-Polemik gegen den deutschen Exportdrang von eigenen Interessen beflügelt, dennoch ist sie berechtigt. Die Bundesregierung könnte durch Unternehmenssteuern etwas tun, um überschießende Ausfuhr-Offensiven von Firmen zu drosseln und Geld für eine marode Infrastruktur zu gewinnen, ohne auf irrwitzige Maut-Regeln zu verfallen.Dummerweise ist das Unverständnis für die Kritik am deutschen Exportmodell nicht gespielt. Dahinter steckt eine verquere, weltwirtschaftlich unbedarfte, rein betriebswirtschaftliche Perspektive. Selbst wenn man ganz borniert nationalökonomisch denkt und jeden Zusammenhang von eigenen Überschüssen und Defiziten bei anderen ignoriert, zeigen die Disproportionen eine extreme Exportabhängigkeit der deutschen Volkswirtschaft. Und die ist längst zur Bürde geworden. Sie generiert signifikante strukturelle Schwächen, die wenig Krisenresistenz versprechen: ein (relativ) schwacher Binnenmarkt, ein (relativ) schwacher Dienstleistungssektor, eine erhebliche Investitionsschwäche – Investitionslücke bei vielen Privatunternehmen und beim Staat. Deshalb kriecht Deutschland trotz überbordender Exportquoten in diesem Jahr mit einem Wachstum von 0,4 Prozent vor sich hin. An dieser Stelle werden die Grenzen einer neomerkantilistischen Politik offenbar, die fast nur noch auf Exportförderung setzt. Da sitzen die Deutschen genauso im Glashaus wie die Amerikaner, deren Finanzpolitik ebenfalls kein Vorbild ist.Wenn die SPD genug Mut und ökonomischen Sachverstand hätte, Angela Merkel und ihren Jubelpersern in Medien und Unternehmerverbänden Paroli zu bieten, müsste sie die Große Koalition an einen radikalen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik binden: an eine aktive Lohnpolitik, mehr öffentliche Investitionen und mehr Abstimmung mit den europäischen Partnern. Wer so tut, als gingen uns die Defizite der anderen nichts an, als seien wir nur für unsere Überschüsse verantwortlich, nicht für deren Konsequenzen – der spielt va banque. Nicht einmal die USA, um ein Vielfaches weniger exportabhängig als Deutschland und mit der Weltwährung Dollar gesegnet, können sich diese Mischung aus Ignoranz und Arroganz noch leisten. Die deutsche Exportmacht wird scheitern, wenn sie dafür sorgt, dass die Handelspartner nicht mehr mithalten können. Es sei denn, man erschließt sich den Mars und den Mond als künftige Abnehmer.