Es ist kurz vor 2047

Hongkong Das Konzept „Ein Land, zwei Systeme“ hat sich vorzeitig erschöpft
Ausgabe 48/2019
Was die Jugend wohl denkt, wenn sie lächelt? Polizei-skeptisches Graffiti auf dem Campus
Was die Jugend wohl denkt, wenn sie lächelt? Polizei-skeptisches Graffiti auf dem Campus

Foto: Nicolas Asfouri/AFP/Getty Images

Die Koexistenz zwischen der Sieben-Millionen-Stadt und Festland-China wirkt gestört, die noch von Deng Xiaoping geprägte Formel „Ein Land, zwei Systeme“ kaum mehr zeitgemäß. 2014 entluden sich die Konflikte in einer drei Monate dauernden „Regenschirm-Revolte“, 2019 hält eine Protestbewegung die Stadt seit mehr als fünf Monaten in Atem. Staatsrechtlich gehört Hongkong seit 1997 zur Volksrepublik China, deren Staatspräsident ist auch Hongkongs Staatsoberhaupt, vor dem jeder Hongkong-Premier (Chief Executive) den Amtseid ablegen muss. Ein Ritual, um Machtrealitäten zu spiegeln.

In Hongkongs Stadtregierung kommt in der Regel nicht zum Zuge, wer in Peking missfällt. Chinas Staatsführung hat das Ende der Hongkong-Autonomie im Jahr 2047 fest im Blick und ist schon jetzt um mehr Kontrolle bemüht. Was auch damit zu tun hat, dass sich die Vorteile des Musters „Ein Land, zwei Systeme“ schneller erschöpft haben als einst angenommen. 1997 galt als ausgemacht, dass Hongkong eine kapitalistische Ökonomie wie seine mehr oder minder demokratische Ordnung zunächst behält. Für dieses Modell gab es besonders einen Grund: Ende der 1990er war Hongkong als Welthandels- und Weltfinanzplatz willkommen.

Effektive Unterdrückung

Die Volksrepublik brauchte Auslandskapital und Zugang zu den Weltmärkten, Hongkong bot beides. Unternehmen und Banken zogen vom Festland in eine Sonderverwaltungszone, die jedoch mittlerweile für China an Relevanz eingebüßt hat. Allein mit dem Finanzzentrum Schanghai gibt es eine Domäne, die Hongkong überflügelt. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die boomende Metropole Shenzhen ein alternativer Handels- und Finanztopos sein wird, der dem unsicheren Hongkong den Rang abläuft. Spätestens 2025 dürfte es so weit sein. Statt eines ökonomischen Prestiges kann Hongkong heute eher politische Vorteile für sich reklamieren, etwa als Stadt weiterhin eigenständiges Mitglied der Welthandelsorganisation WTO, des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT oder der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft APEC zu sein.

Hongkonger sind zweisprachig, neben Englisch wird Kantonesisch gesprochen. Kulturell und national gehören sie zu China, ohne die Chinesen vom Festland je geliebt zu haben. Geschätzt wird eine soziokulturelle Authentizität, dazu eine vitale Medienlandschaft, in der sich auch eine politische Opposition Gehör verschaffen kann. In dieser Metropole finden regelmäßig Wahlen statt, wie am Wochenende die Abstimmung über die Bezirksparlamente. Nur können die etwa 4,1 Millionen registrierten Wähler nicht direkt über die Zusammensetzung ihrer Regierung entscheiden. Auch wenn momentan 18 Parteien im Legislative Council vertreten sind, gibt es doch kein gleiches Wahlrecht, wofür noch die britische Kolonialmacht gesorgt hat.

Chinas Regierung sah bisher keinen Grund, das überaus komplizierte, keineswegs demokratische Wahlrecht in der Sonderverwaltungszone zu reformieren. So wird nur die Hälfte der 70 Abgeordneten im Legislative Council von den Bürgern direkt gewählt, den Rest nominieren 28 Interessengruppen, darunter der Lehrerverband, Industrie- und Handelskonzerne, der Börsenverein und Bankkonsortien, deren Stimmen mehr Gewicht haben als die einfacher Wahlbürger. Da das Grundgesetz von Hongkong der Pekinger Regierung substanzielle Eingriffe zugesteht, kann nur sie das kuriose Wahlrecht ändern, falls ihr das opportun erscheint. Nach dem Basic Law lassen sich in Hongkong zudem geltende Gesetze für ungültig erklären oder nach Artikel 39 die Rechte der Bürger einschränken. Die Magna Charta legitimiert die Zentralregierung in Peking, bei Unruhen in der Stadt den Notstand auszurufen, gegebenenfalls militärisch einzugreifen.

Bisher konnte sich Peking auf die lokalen Autoritäten verlassen, verfügten doch die prochinesischen Parteien über einen Block, der im Parlament und in den Bezirksräten eine klare Mehrheit besaß. Dabei wurde Carrie Lam, die derzeitige Chefadministratorin (so der Titel offiziell) nicht vom Stadtparlament gewählt, das blieb einem Wahlkollegium vorbehalten, über das in Peking entschieden wird und an dem nur einige Gesandte aus Hongkong-Bezirken beteiligt sind. Carrie Lam, die 2017 ans Ruder kam, steht für den Kurs all ihrer Vorgänger: Vorkehrungen treffen, dass Hongkong 2047 möglichst schmerzlos in die Volksrepublik „heimkehren“ kann.

Dagegen kommt die Opposition, zersplittert in viele Parteien und Gruppierungen, kaum an. Nach der Protestwelle von 2014 hat sie zwar bescheidene Wahlerfolge erzielt, aber jeder Versuch, das Wahlrecht zu demokratisieren oder gar für eine Unabhängigkeit Hongkongs einzutreten, wird rasch und effektiv unterdrückt. Wer solche Ansinnen vertritt, wird entweder nicht zur Wahl zugelassen oder des Parlaments verwiesen. Oppositionelle haben daher kaum eine andere Wahl, als auf die Straße zu gehen und auf den Beistand einiger großer Zeitungen oder des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu hoffen. Bisher konnte sich Peking bei daraus resultierenden Konflikten zurückhalten – das eigene Lager in Hongkong war stark genug. Gerät es in Bedrängnis, wird direkter Einfluss als unerlässlich angesehen.

Wahlsieg der Opposition

Am Sonntag gab es nun Wahlen zu Hongkongs Bezirksparlamenten. Da diese Gremien kaum etwas zu sagen haben, galt das Votum als Stimmungstest, wurde von Anhängern der Protestbewegung gar zum Plebiszit erklärt: Steht die schweigende Mehrheit hinter uns oder nicht? Nur ein Viertel der 479 Sitze in den 18 Bezirksräten wurde bisher von pro-demokratischen Parteien gehalten. Auch wenn bekannte Gesichter der Opposition von den Kandidatenlisten gestrichen wurden, traten diesmal aus deren Reihen mehr Bewerber an als je zuvor, während sich zugleich 400.000 neue Wähler registrieren ließen und die Wahlbeteiligung mit 71,2 Prozent höher ausfiel als bei allen Urnengängen seit 1997. Unter diesen Umständen errang die Opposition einen Sieg, sodass die pro-chinesischen Parteien die Mehrheit in fast allen Bezirksräten verloren. Ihre Gegner holten 278 der nunmehr 452 Bezirksratsposten. Fazit, Carrie Lam und ihre Entourage der Peking-Getreuen haben bei den Hongkongern keinen Rückhalt mehr.

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