Friedrich, der Große

Vordenker Kapitalist, früher Feminist, Kommunist und fast Öko-Sozialist. Engels wird 200 Jahre alt. Was wäre der Marxismus ohne ihn?
Ausgabe 41/2020

Eigentlich wollte er Schriftsteller und Dichter werden. Auf Betreiben seines Vaters wurde der 1820 in Barmen geborene Unternehmersohn Friedrich Engels selbst ein erfolgreicher Manager und Kapitalist. Und zwar im Zentrum der ersten echten Weltindustrie, in Manchester, Hauptstadt der britischen Textilindustrie. Engels war Teilhaber von Ermen & Engels, einer der führenden Baumwollspinnereien. Er war, wenn auch widerwillig, ein „Cotton-Lord“, der fast täglich zur Baumwollbörse ging. Dieser Stammvater des Sozialismus wusste, wovon er sprach, wenn er den modernen Kapitalismus kritisierte.

Fast verschwindet er hinter dem langen Schatten seines Freundes Karl Marx. Was auch an Engels’ notorischer Bescheidenheit liegt, zeitlebens bezeichnete er sich als „zweite Violine“. Obwohl er oft den Ton angab, als Pionier voranging und nach Marx’ Tod noch gute zwölf Jahre weiterarbeitete. Ohne diesen Engels hätte es den „Marxismus“ nie gegeben, ohne ihn wären die Berge unvollendeter Manuskripte, die Marx hinterließ, unveröffentlicht geblieben.

Mit 50 Jahren war Engels ein gemachter Mann, er konnte dem „hündischen Kommerz“ ade sagen und ließ sich als Privatgelehrter in London nieder. „Frederick Engels, Political Philosopher“, steht heute auf einer blauen Plakette am Haus 122 Regent’s Park Road in Primrose Hill. In Manchester hatte er ein Doppelleben geführt, die gute Gesellschaft durfte nicht erfahren, dass der Geschäftsmann auch ein Vordenker des Sozialismus, Mitverfasser des Manifests der Kommunistischen Partei, streitbarer Journalist, ehemaliger Offizier in der Badischen Rebellenarmee von 1849 war. In London lebt er das Leben eines reichen Privatiers, als er 1895 starb, hatte er sein Vermögen fast verdreifacht. Karl Marx und seine Familie hat er 45 Jahre lang finanziert.

Gegen das Raubbauregime

Als Marx und Engels 1844 zusammentrafen, machte Engels sich als Kritiker der politischen Ökonomie und „Sozialschriftsteller“ gerade einen Namen. Die Lage der arbeitenden Klasse in England, sein erstes Buch, war gleich eines seiner erfolgreichsten. Engels war es, der die Bedeutung der Industriellen Revolution in England erkannte und den Aufstieg einer neuen Klasse, der Fabrikarbeiter, auf dem Kontinent bekannt machte. Er erkannte, dass Arbeitsmärkte keine Märkte wie alle anderen sind und moderne Lohnarbeiter sich in einer historisch einzigartigen Form der Abhängigkeit befanden. Sie sind „doppelt frei“, so nannte Marx das, Engels folgend, später. Frei handelnde Personen und Marktteilnehmer, zugleich Habenichtse, die zum Leben einen Job brauchen. Engels analysierte als einer der Ersten die Methoden, mit denen menschliche Arbeitskraft im modernen Fabriksystem ausgebeutet wird.

Die Gegenbewegung sieht und analysiert er schon 100 Jahre vor Karl Polanyi, dem heute bei linken Intellektuellen beliebtesten Kritiker der politischen Ökonomie. Die Arbeiterbewegung in England und bald auf dem Kontinent gilt Engels als Grundlage aller sozialrevolutionären Ideen und Bestrebungen. Also spart er sich das Naserümpfen über die Arbeiterklasse und studierte, was die Arbeiterbewegung an Neuerungen hervorbrachte – Gewerkschaften, Genossenschaften, soziale Experimente.

Engels oder Marx als Öko-Sozialisten zu bezeichnen, ist übertrieben. Aber die Umweltzerstörung durch die industrielle Produktionsweise sah Engels genau. Luftverschmutzung, Wasserverschmutzung, Bodenverschmutzung. Der Raubbau in allen Formen verwüstete die neuen Industrieregionen. Engels’ frühe Schrift wird heute als „Meisterstück ökologischer Analyse“ gepriesen. Nicht zu Unrecht. Der industrielle Kapitalismus auf fossiler Grundlage, so Engels, werde den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur auf die Dauer stören, ja zerstören. Wie beim Abholzen der Wälder im antiken Europa werde die schwer beschädigte Natur zurückschlagen.

Soziale und ökologische Frage sind nicht zu trennen, das wusste der junge wie der alte Engels. Die Ärmsten leiden am meisten unter der Umweltzerstörung, sie können den Folgen des Raubbaus nicht entkommen. Wachstumszwang und gnadenlose Konkurrenz im Weltmarktmaßstab sah er als größtes Hindernis für einen „rationellen“ Umgang mit der Natur. Ohne Naturwissenschaft und Technologie sei die Dynamik der neuen industriellen Produktionsweise nicht zu begreifen, schrieb der junge Engels. Die Entwicklung der Naturwissenschaften studierte er jahrelang. Mit wachsender Skepsis gegenüber der Anmaßung, die Natur beherrschen und besiegen zu wollen. Das würde unweigerlich schiefgehen, so Engels. Da der industrielle Kapitalismus die Grenzen nicht respektiere, die die Natur ihm setze, müsse er überwunden werden – durch eine andere, und wie er hoffte, höhere Form von Wirtschaft und Gesellschaft. Engels war zudem ein früher Feminist, der erste, der die historischen Ursprünge des Patriarchats zu bestimmen versuchte. In wenigen Wochen und ziemlicher Eile schrieb er ein Jahr nach Marx’ Tod Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Eine wichtige Entdeckung für den Feminismus und für den wissenschaftlichen Sozialismus, wie er Engels und Marx vorschwebte: Das Patriarchat war um vieles älter als der moderne Kapitalismus, entstanden aus der neolithischen Revolution, fand es sich lange vor dem Industriezeitalter. Folglich würde es selbst mit der Überwindung des Kapitalismus nicht einfach verschwinden. Ebenso wenig übrigens wie der Staat, auch er viel älter als der moderne Kapitalismus. Für Engels war der Grad der weiblichen Emanzipation der Gradmesser für die allgemein menschliche Emanzipation.

Revolution? Nicht zeitgemäß

Im viktorianischen England verkündete ein Sozialist die sozialwissenschaftliche Einsicht, alle Formen der Familie seien historisch, historisch vergänglich und veränderbar. Als wissenschaftlicher Sozialist aber weigerte Engels sich, etwas über die künftige Form der Familie oder die Geschlechterverhältnisse im Sozialismus zu sagen. Anders als August Bebel, dessen Frau und der Sozialismus er implizit kritisierte. Das sollten die kommenden Generationen ausmachen, sozialistische Theoretiker hatten sich da nicht einzumischen.

Parteimitglied war er nur kurz, politische Ämter hatte er selten. Dafür wurde er auf seine alten Tage zum Mentor und Ober-Guru der sozialistischen Bewegung in Europa und darüber hinaus. Mit wachsendem Erfolg verbreitete er seine und Marx’ Auffassungen, das „Erfurter Programm“ der SPD von 1891 war das erste klar „marxistische“ Programm einer Massenpartei. Ohne Utopien kommt keine soziale Bewegung aus. Auch nicht ohne Überzeugungen und Werte. Was den Sozialismus zur „Wissenschaft“ machen sollte, war die wohlbegründete Einsicht in die unterschiedlichen „sozialistischen Möglichkeiten“ von heute und morgen. Ebenso wie die mitunter bittere Erkenntnis, dass Revolutionen nicht beliebig gemacht und Sozialismen auch unmöglich sein können. Die Frage nach den „Voraussetzungen“ ließ sich nicht wegwischen.

So, wie sich die Frage nach der Alternative, nach Gestaltungen der künftigen Wirtschaft und Gesellschaft jenseits des Kapitalismus wissenschaftlich nicht eindeutig und nie abschließend beantworten ließ. „Wir haben kein Endziel“, sagte Engels 1893 im Interview, „wir sind Evolutionisten.“ Jeder Schritt über den Kapitalismus hinaus führt nicht ins gemachte Bett der besten aller Welten, sondern ins freie Feld, wo experimentiert, ausprobiert, umgebaut werden muss. Mit dem Risiko des Scheiterns. Deshalb war Engels, der alte 1848er, ein demokratischer Sozialist. Heute, so schrieb er 1895, sind Revolutionen nicht mehr möglich als Kommandounternehmen kleiner Avantgarden. Heute geht es darum, dass die große Masse selbst begriffen hat, worum es geht und worauf sie sich einlassen will. Sozialistische Diktaturen sind kontraproduktiv, im besten Fall. Engels war kein Systembauer, kein Ideologe, ganz sicher kein Positivist, auch kein Marx-Esoteriker. Für das, was Sozialisten und Marxisten mit seinem und Marx’ Erbe veranstaltet haben, kann er nicht haftbar gemacht werden. Denn dem meisten, was in diesen Kreisen als orthodox galt, hat er ausdrücklich widersprochen. Von Engels kann man heute noch lernen, was treffende Kapitalismuskritik ist und wie man die Ambivalenzen der kapitalistischen Entwicklung im Kopf aushält. Was es heißt, historisch und interdisziplinär zu denken, furchtlos und ohne falsche Ehrfurcht vor bürokratischen Grenzziehungen. Und wie man mit Ironie, Verstand und einer guten Portion aufgeklärter Skepsis an der Verbesserung der Welt arbeitet.

Michael Krätke ist Politikwissenschaftler und Autor. Zuletzt gab er Friedrich Engels oder: Wie ein „Cotton-Lord“ den Marxismus erfand heraus

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