Hang zum Austritt

Camerons Problem Mit ihrem Krisenmanagement in einem deindustrialisierten Land stößt die liberal-konservative Regierung schnell an Grenzen. Polemik gegen die EU soll das kompensieren

Nur mit viel britischem Understatements lässt sich behaupten, der Ökonomie auf der Insel gehe es schlecht. Tatsächlich steckt sie – von Griechenland abgesehen – tiefer im Krisensumpf als manch anderer EU-Staat und durchläuft die längste Depressionsphase seit den zwanziger Jahren. Die Wirtschaftsleistung liegt weiter 4,5 Prozent unter der des Jahres 2008. Dank der Olympischen Spiele gab es einen minimalen Aufwärtstrend im III. Quartal, ein Plus von einem Prozent, verglichen mit dem Zeitraum April bis Juni, doch längst ist es mit dem Olympia-Effekt wieder vorbei. Inzwischen deuten alle Indikatoren auf andauerndes Schrumpfen. Britanniens Wirtschaft droht die dritte Rezession in Folge seit dem Finanzcrash vom September 2008. Nach dem double-dip gibt es den triple-dip.

Der Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher ist es zu verdanken, dass im Mutterland der industriellen Revolution die Industrie nur noch ein Schattendasein fristet. 2003 sorgte sie noch für 16 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung (nach 21 Prozent im Jahr 1990), inzwischen fiel diese Quote auf etwas über zehn Prozent. Nur der Finanzsektor konnte in und mit der Krise wachsen und leistet mit einem Anteil von neun Prozent am Bruttoinlandsprodukt in etwa so viel wie die Industrie. Außer den Briten hängen nur die Iren und notorische Steueroasen von den Jungferninseln bis zu den Malediven noch stärker von Finanzdienstleistungen ab. Es ist bei einem deregulierten Arbeitsmarkt eben viel billiger zu heuern und wieder zu feuern, als in Maschinen und Anlagen zu investieren. So entscheidet über die britische Wirtschaft mehr denn je der Konsum. Doch können überschuldete Privathaushalte keine Konjunkturhilfe sein.

Deutschland bildet in Europa das Gegenmodell zu Großbritannien: Einem verhältnismäßig starken Industriesektor mit einem Anteil an der Wirtschaftsleistung von über 24 Prozent steht ein relativ kleiner Finanzsektor gegenüber. Um sich diesem Standard anzunähern, würde auf der Insel eine Reindustrialisierung gebraucht. Von der wird zwar oft geredet, doch mit den vorhandenen Rüstungsschmieden und ihrem High-Tech-Waffenhandel, ein paar Öl-, Computer- und Pharma-Unternehmen kann man als Exportnation nicht bestehen. Strukturpolitik wäre vonnöten, nur ist die mit der rigiden Sparpolitik des Kabinetts Cameron nicht zu vereinbaren.

Glänzender Verkauf

An der aktuellen Misere seien die EU mit ihrer Regulierungswut und die Euroländer mit ihrem unzureichenden Management der Euro-Krise schuld, hört man oft in Großbritannien. Dabei wird eiskalt ignoriert, wie sehr der bis über alle Halskrausen verschuldete britische Staat von der Euro-Krise profitiert. Denn die Gilts, die britischen Staatspapiere, verkaufen sich glänzend, ihre Renditen stehen zum Verdruss der Spekulanten auf einem Allzeit-Tief, so dass sich der Staat extrem günstig refinanzieren kann. Britische Anleihen gelten derzeit als ebenso sicher wie US-Papiere. Wenn es einen sicheren Hafen für flüchtendes Kapital gibt, dann diesen.

Euroskeptische Tory-Dissidenten tun dennoch viel, um Wut und Enttäuschung der von einer rabiaten Sparpolitik gebeutelten Briten auf Europa zu lenken. Gegen die „Brexit“ Stimmung für einen Austritt aus der EU, die sich rasch ausbreitet, müsste Cameron im wohlverstandenen nationalen Interesse angehen. Freilich käme er dann um das Eingeständnis nicht herum, dass die verachteten Kontinentalen mehrheitlich noch immer besser dastehen als die Briten unter liberal-konservativer Führung. Auch würde ein Austritt aus der EU für möglicherweise heftige Kollateralschäden sorgen. Von den Ausfuhren in die EU-Länder, mit denen mehr als 50 Prozent der britischen Exporte bestritten werden, hängen mehr als zehn Prozent aller Arbeitsplätze ab. Zudem kommt gut die Hälfte aller Auslandsinvestitionen aus Mitgliedsstaaten der EU.

Der Rest Europas hat genug von der britischen Sonderrolle. Brüssel hätte allen Grund, mehr auf die Schotten zu setzen. Veranstaltet deren Regionalregierung ihr Referendum über eine Zukunft in- oder außerhalb des Vereinigten Königreichs, bei dem die Schotten eventuell für ihre Unabhängigkeit stimmen, soll es auf jeden Fall bei einer EU-Mitgliedschaft bleiben. Sogar den Euro gedenkt ein souveränes Schottland einzuführen.

Michael Krätke ist Professor an der Universität Lancaster

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