In Deutschland wird über die nächste Bahnreform gestritten, da kommen aus dem Mutterland der Eisenbahn verstörende Berichte. Die Wiederverstaatlichung der in den neunziger Jahren privatisierten Eisenbahnen hatte unter Jeremy Corbyn eigentlich die Labour Partei gefordert. Nun sind es ausgerechnet die regierenden Tories, die die Bahn seit 2020 in Teilen verstaatlichen. Was ist da los?
Großbritannien hat das älteste Eisenbahnnetz der Welt. Gebaut und betrieben wurden die Eisenbahnen von privaten Aktiengesellschaften, es gab einige Hundert davon, denen jeweils relativ kurze Strecken gehörten. Eisenbahnaktien eroberten die Börsen und die guten Bürger stürzten sich darauf: ein Riesengeschäft. Ein gewisser Friedrich Engels, Textilfabrikant in Manchester, machte mit Eisenbahnaktien ein Vermögen. Um den Wildwuchs zu steuern, wurden die Eisenbahngesellschaften nach zahlreichen Fusionen in vier großen regionalen Gruppen zusammengefasst. 1948 wurden sie von der ersten Labour-Regierung der Nachkriegszeit verstaatlicht, fortan fuhren die Briten überall im Lande mit der Staatsbahn British Rail. Die wurde zu einer nationalen Institution, obwohl das Streckennetz im Zuge des grassierenden Autowahns in den 1960er Jahren um fast die Hälfte abgebaut wurde.
Anfang der 1990er Jahre wurde die Staatsbahn reorganisiert und in verschiedene Abteilungen – für Infrastruktur, Reparatur, rollendes Material, Personen- und Güterverkehr – aufgespalten, ab 1994 wurden diese Abteilungen privatisiert. Seit 1996 findet der Schienenverkehr in einem Franchisesystem statt. Dabei bewerben sich private Aktiengesellschaften um das Recht, den Personenverkehr auf bestimmten Strecken für eine bestimmte Zeit betreiben zu dürfen, oft in Konkurrenz mit anderen Bahngesellschaften. Wer den Zuschlag bekommt, zahlt eine Franchisegebühr – je nachdem, wie profitabel der Betrieb der Strecke aussieht. Viele erhalten Subventionen aus dem Staatssäckel, um auch wenig rentierliche Strecken für private Aktiengesellschaften attraktiv zu machen, mehr als 417 Millionen Pfund waren das im Haushaltsjahr 2018/2019.
Die Bahnbetreiber können die Fahrpreise nach Gutdünken festsetzen und tun das ohne Rücksicht auf ihre murrenden Fahrgäste. Trotz hoher Franchisegebühren sprudeln die Dividenden. Nicht wenige der Bahngesellschaften, die auf dem britischen Streckennetz fahren, sind Töchter von staatlich kontrollierten Bahnen wie der Deutschen Bahn oder der französischen Staatsbahn SNCF.
Sparen bis zum Tod
Wer in Großbritannien auf die Eisenbahn angewiesen ist, wie Millionen von Pendlern in allen städtischen Großräumen, kennt den täglichen Ärger: Die Züge sind überfüllt, ständig verspätet oder fallen aus, sie sind schlecht ausgestattet. Und Bahnfahren ist teuer in Großbritannien, weit teurer als auf dem Kontinent. Bis zu einem Fünftel ihres Einkommens müssen Berufspendler an die Eisenbahngesellschaften abtreten, nur um zur Arbeit zu kommen. Wenn man dann immer wieder unverschuldet zu spät kommt, wenn Unfälle passieren wegen schlechter Wartung, wegen Übermüdung der schlecht bezahlten Lokomotivführer, wegen Streiks, die völlig berechtigt alle naselang bei der einen oder anderen Bahngesellschaft ausbrechen, dann steigt der Unmut. So weit, dass inzwischen über 68 Prozent der Briten für eine Wiederverstaatlichung der Eisenbahnen sind.
Die Renationalisierung der Eisenbahn war einer der populärsten Punkte in dem Programm, mit dem Labour 2017 und 2019 in den Wahlkampf zog.
Eine Serie von schweren Unfällen hat das Image der Privatbahnen schwer beschädigt. Einen Wendepunkt stellte insbesondere der Bahnunfall am 17. Oktober 2000 bei Hatfield dar, bei dem vier Passagiere getötet und 70 Menschen verletzt wurden. Allzu offensichtlich wurde eine der zentralen Schwachstellen des Systems: Die private Gesellschaft Railtrack, der das Schienennetz gehörte, hatte Wartung, Reparatur und Sanierung jahrelang vernachlässigt. Öffentlicher Druck zwang sie zu einem Gleiserneuerungsprogramm. Ein Jahr später war Railtrack pleite, die gesamte Bahninfrastruktur fiel an eine neue Gesellschaft, die Network Rail. Das war schon ein Schritt weg vom System der Privatbahnen, denn Network Rail war keine Aktiengesellschaft, sondern eine Limited Company by guarantee – vergleichbar einer GmbH – und arbeitete ohne Gewinnorientierung. Aber Network Rail hatte nicht die Mittel, das Streckennetz auszubauen und zu modernisieren. Die Probleme blieben.
Vor zehn Jahren hat eine von der Regierung bestellte Expertise gezeigt, dass die britischen Privatbahnen in Sachen Effizienz weit hinter den Staatsbahnen auf dem Kontinent zurückbleiben, eine „Effizienzlücke“ von 40 Prozent wurde berechnet. Die Tory-Regierungen versuchten mit wortreichen Ankündigungen gegenzusteuern. Mit Milliarden an Steuergeldern sollten die notwendigen Hochgeschwindigkeitsstrecken gebaut werden, von denen Großbritannien – im Gegensatz zu Frankreich, Spanien oder Italien – bis heute nur eine einzige hat. Allerdings geht es kaum voran auf den Großbaustellen. Und die Fahrpreise steigen ununterbrochen weiter, doppelt so schnell wie die durchschnittlichen Löhne und Gehälter. Nirgendwo sonst in Europa ist der Nah- und Fernverkehr per Bahn heute so teuer wie in Großbritannien. Inlandsflüge sind allemal billiger als Bahnreisen.
Die Corona-Krise und die Lockdowns bedeuteten dann für viele Eisenbahngesellschaften das Aus. Passagiere blieben zu Hause, Pendler forderten das Geld für ihre teuren Jahreskarten zurück, während die Kosten weiterliefen. Viele Gesellschaften rauschten in die roten Zahlen, etliche standen dicht vor dem Bankrott oder gingen pleite. Die Tory-Regierung konnte gar nicht anders: Sie musste jene Strecken, die die Eisenbahngesellschaften nicht mehr bedienen konnten, wieder zurück in Staatsregie nehmen und die entsprechenden Franchise-Verträge aufkündigen. Das betraf Anfang 2020 zwei Strecken: die Northern Rail zwischen Manchester und Leeds, die von der Arriva betrieben wurde, einer Tochter der Deutschen Bahn. Die Southern Rail, der zweitgrößte Streckenkomplex unter Franchise, steht ebenfalls unter verschärfter Beobachtung und droht beim nächsten Fehltritt unter staatliche Kontrolle gestellt zu werden. Schon im Mai 2018 tat die Tory-Regierung dies mit der East Coast Main Line zwischen London und Edinburgh.
Labours Schattentransportminister Jim McMahon hat die Regierung aufgefordert, jeder privaten Bahngesellschaft, die ihren Franchisevertrag nicht erfülle, sofort zu kündigen – und die Kontrolle über die Eisenbahn zurückzuholen. Das entspricht nun auch dem jüngsten Tory-Wahlprogramm. Wie die Ironie der Geschichte so spielt, sind es nun also die Tories, die das einstige Programm ihres Angstgegners Jeremy Corbyn umsetzen, Stück für Stück. Allerdings ohne einen Plan und ohne eine durchdachte Alternative. Ganz im verwirrten Stil des heutigen Hausherrn von Downing Street No 10.
Kommentare 7
tja, damit man seine arbeits-kraft "zu markte tragen" kann,
fallen für die meisten: kosten für mobilität an,
für deren bereitstellung diverse dienst-leister, ob kommunal,staatlich
oder privat:
pauschal-gebühren in form von (kfz-)steuern, kraft-stoff-preisen/-steuern
und/oder zu speziell zu entrichtenden ticket-preisen fordern.
selbst die besohlung eigenen schuh-werks kostet...
und auch der hafer-brei für nötige auto-mobilität ohne "gas"-pedale
kostet...
eine organisation, die die nötige mobilität diverser menschen unter
einen ökologisch- und sozial-vertretbaren hut bringt, gabs bisher nicht....
Hat sich Thatcher etwa auch hier komplett geirrt, und privat ist doch nicht immer besser als Staat? Einer ihrer anderen Irrtümer war die Pferdeäpfel-Theorie, nach der man Reiche nur reicher machen brauche, dann würden für die Armen auch paar Krümel abfallen. Oder dem magischen Denken, dass man mit Steuersenkungen mehr Steuern einnimmt.
Man kann es auch pointierter ausdrücken: Thatchers und Reagans Neoliberalismus war ein Rundum-Fehlschlag und hat zu den langsamsten Wachstumsraten seit Jahrzehnten geführt. Anstatt diese Fehler in Deutschland alle zu widerholen (Privatisierung von Bahn und S-Bahnstrecken), sollten wir mit einem Schutzanzug bekleidet diese vergammelte und schon übel stinkende Wirtschaftstheorie auf den Sondermüll der Geschichte entsorgen. Dann bauen sich auch gesellschaftliche Aggressionen wieder ab. Muss nur noch jemand den VWL-Professoren mitteilen, die bis heute immer noch so tun, als wäre Neoliberalismus und der kaum weniger vulgäre Vorgänger Neoklassik nicht schon grundsätzlich widerlegt worden durch die Praxis zwischen den beiden Weltkriegen – in Europa führen Neoklassik und Austerität direkt in faschistische Diktaturen, während Roosevelt die große Depression dadurch überwand, dass er das genaue Gegenteil von Neoklassik und Austerität tat. Während Schäuble während der Eurokrise Südeuropa wieder das pure Gift der Austerität verordnete wie 90 Jahre zuvor, tat Portugal das genaue Gegenteil und wuchs erfolgreich aus seiner Krise heraus (auch mit höheren Löhnen) und wurde zum Musterbeispiel einer wirtschaftlichen Erholung. Das nimmt der Konservative zwar zur Kenntnis, hinterfragt aber nicht sein krudes Gedankengebäude, dass so etwas eigentlich nicht zulässt.
Na ja, von Boris wird noch das ein oder andere Unerwartete kommen. Das liegt wohl daran, daß er einst zu den wenigen Leuten gehörte, die sich trauten in London Fahrrad zu fahren, wahrscheinlich Gegen Autos und "Red Light Go!"
Aber diese Vergleiche hier liebt das Proll immer wieder gerne:
Hat was davon, daß Mieten in Berlin angeblich niedrig wären.
Für die Hälfte der hiesigen Bevölkerung ist Bahnfahren viel zu teuer, sie können es sich nicht leisten und daß es in UK noch teurer sein soll, hilft da wenig und daß das so ist, liegt vor allem an dem ICE-Dreck.
Da werden Milliarden verballert, damit bequeme Touristen bald vom Museum in Berlin ins Museum nach Vienna eiern können oder man von Wolfsburg nach Düsseldorf ne halbe Stunde spart, wenn der "ICE" nicht dreist über Cheeseburg "abkürzt"; wobei man sich eh wundert, daß die "Autostadt Wolfsburg" überhaupt ne Haltestelle hat.
Wenn man früher z.b. beim Trampen nach Italien liegenblieb, konnte man sich immer noch den Zug leisten.
Heute geht das höchstens noch auf Sizilien.
Wahrscheinlich kostet die ganze Strecke dann weit über tausend Tacken, früher wäre das nicht mal ein Zehntel davon gewesen.
Aber das liegt wohl an in den Nachrichten gut versteckter Inflation...
Man kann nicht sagen, dass die Neoliberalen nichts zustande bekommen, denn es ist ihnen gelungen, die öffentliche Bahninfrastruktur mehrere Jahrzehnte erfolgreich auszupressen wie eine Zitrone und sich Subsidien aus dem Staatshaushalt zu erschleichen. Niemand sonst war so erfolgreich. Und jetzt darf der Staat es auf Kosten der Allgemeinheit richten. Dafür hat man die Tories. Der Staat könnte sich ja auch weigern, diesen Schrotthaufen wieder an sich zu ziehen und die alten Eigentümer sowie wie ihre Banken zwingen, die Bahn auf ihre Kosten wieder instandzusetzen. Ich finde nicht, dass die Rückverstaatlichung der britischen Bahn (wenn sie denn überhaupt stattfindet) ein glorioser Sieg der linken Staatsfreunde ist. Es ist eine weitere Niederlage.
die private wasserwirtschaft ist beim auspressen noch erfolgreicher...
tv-doku: "bis zum letzten tropfen. der krieg ums wasser."
tv-doku, 2017. Y.afgeropoulos.
Privatisierung ist keine Universallösung - ebensowenig wie die Verstaatlichung. Das Problem der Bahn ist, dass ihr Betrieb so viel Geld kostet, dass er durch Ticketpreise nicht refinanzierbar ist. Bleibt die Lösung, die Bahnfahrer mit Steuergeld zu subventionieren, oder die Bahn stillzulegen. Es läuft wohl darauf hinaus, dass alsbald nurmehr wenige, profitable Bahnstrecken aufrechterhalten werden - egal ob in öffentlicher oder privater Hand.
Zitat:" Bleibt die Lösung, die Bahnfahrer mit Steuergeld zu subventionieren, oder die Bahn stillzulegen."
Die Argumentation ist so seriös wie die Behauptung, die privaten TV- und Radiosender würden im Vergleich zu den öffentlich-rechtlichen Sendern für die Bürger nichts kosten.
Sicherlich wird die Bahn und werden die Bahnfahrer mit Steuergeldern subventioniert. Wer bestreitet das?
Aber was ist mit den Autofahrern? Werden die Autofahrer etwa nicht subventioniert? Oder wollen Sie den Bürgern allen Ernstes erzählen, dass die Einnahmen durch die Kfz-Steuer und die Mineralölsteuer ausreichen, um alle volkswirtschaftlichen Kosten zu decken, die der Autoverkehr und die Autofahrer in diesem unserem Lande verursachen?
Zu diesen Kosten gehören nicht nur der Bau neuer Straßen, neuer Autobahnen und neuer Brücken. Dazu gehören auch auch der laufende Unterhalt von Straßen, Autobahnen, Brücken, Parkplätzen, Ampeln, Verkehrschildern inklusive Straßenbeleuchtung und Straßenentwässerung.
Hinzurechnen muss man aber auch die externen Kosten, die der Autoverkehr indirekt mit sich bringt z. B. durch Flächenversiegelung, CO2-Emissionen, Umweltverschmutzung, Lärm und die Beeinträchtigung der Lebensqualität, wenn Bürger z. B. in der Nähe einer viel befahrenen Straße wohnen.
Und was ist mit der steuerlichen Subventionierung durch das Dienstwagenprivileg? Noch nie was davon gehört oder gelesen? Was ist mit der Pendlerpauschale für Autofahrer? Ist das keine Subventionierung?
Das Problem ist, dass die Bahn in den letzten Jahrzehnten von neoliberal-konservativen Politikern und Parteien systematisch zugunsten des Pkw- und Lkw-Verkehrs und der Straße kaputtgespart wurde.
Wenn man damit argumentiert, dass Bahnfahrer mit Steuergeldern subventioniert werden und den privaten Autoverkehr hofiert, dann sollte man, wenn man ehrlich und seriös argumentiert, die vielen Milliarden mit denen Autofahrer und Straßenverkehr Jahr für Jahr subventioniert werden, nicht einfach unter den Teppich kehren.