Labour leidet und kommt nicht voran. Jeremy Corbyns Nachfolger Keir Starmer fehlt es nicht an Rückhalt in der Partei oder an Sympathien in den Medien, dafür an Ideen und Konzepten. Starmer und sein Schattenkabinett haben die Meinungsführerschaft in Sachen Klimapolitik den Tories überlassen. Die wollen im November mit dem Klimagipfel Cop26 in Glasgow renommieren. Die Zeiten, in denen Labour als Ideengeber der europäischen Sozialdemokratie auftrat, sind vorbei. Dabei hat die Partei in der kurzen Corbyn-Ära einen programmatischen Sprung nach vorn gewagt. Im Sommer 2017 wurden die Unterhauswahlen zwar knapp verloren (mit 40,3 gegen 42,4 Prozent der Konservativen), doch unerwartet viele Wähler gewonnen. Ein damaliges Manifest versprach eine radikale Wende der gesamten Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Das zog, sodass 2019 dieses Umbauprogramm erweitert wurde. Auch wenn die Wahl noch enttäuschender ausging als gut zwei Jahre zuvor, stand Labour mit dem „Green New Deal“ für die radikalste Alternative zur Austeritätspolitik in der Europäischen Union.
Umbau wie nach dem Krieg
Längst haben der Brexit und die Pandemie dies alles verschlungen. Nur, was wäre wenn? Wenn eine Labour-Regierung irgendwann die Chance bekäme, wenigstens etwas von dem umzusetzen, was 2017 und 2019 zugesichert wurde? Man wollte alles verbinden: den Sozialstaat erhalten, ausbauen und modernisieren, dazu die gesamte Wirtschaft transformieren und einen radikalen Strukturwandel hin zu klimaneutralen, grünen Branchen vorantreiben.
Historisches Vorbild war die enorme Transformation des britischen Kapitalismus, den die erste Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg zustande gebracht hatte. Mit einer neuen, diesmal grünen industriellen Revolution sollte das Land den vollständigen Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energien schaffen, und das flächendeckend, in allen Sektoren.
Klimaschutz ja, aber bitte „sozialverträglich“, bis zum Überdruss wiederholt, liefert dieser Refrain die Universalentschuldigung für Blockaden und Untätigkeit. Teil zwei dieses Refrains: Was wird das alles kosten? Antwort: zu viel für Normalverdiener, die sich Solarpanels auf dem Dach, Elektroauto, Bio-Lebensmittel, stromsparende Kühlschränke usw. nicht leisten können. So stecken wir fest: Was notwendig wäre, ist nicht bezahl- oder zumutbar. Und was akzeptabel erscheint, reicht nicht, um die Klimaerosion aufzuhalten.
Radikale Experimente hat es in Europa schon gegeben, noch keines in dem Umfang und mit den Konsequenzen, wie sie der ökologische Umbau braucht. Die Labour-Agenda von 2019 hatte sich bei Erfahrungen und Ideen linker Bewegungen in vielen EU-Staaten bedient. Britisch war der Rückgriff aufs eigene sozialdemokratische Tafelsilber – den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS), kommunales Eigentum, Genossenschaften, den Gildensozialismus von Wirtschaftsreformern Anfang des 20. Jahrhunderts, eine staatliche Planung. Ergab das ein stimmiges Konzept? Man operierte mit Bausteinen, um die Komplexität der neuen Politik zu verdeutlichen. Für ein Wahlmanifest war das zu kompliziert, für eine langfristig angelegte Neuorientierung der Partei brauchbar. Konnte es als Masterplan funktionieren? Ließen sich Privatisierungen im öffentlichen Sektor rückgängig machen, ohne marode Staatsfirmen zu reanimieren? War mit öffentlichen Investitionen großen Stils, mit einer neuen Industriepolitik, einem regionalen wie sektoralen Strukturwandel ein Umbruch zu bewirken, ohne Massenarbeitslosigkeit zu riskieren? Konnte es eine Verkehrswende geben, ohne am Widerstand mächtiger Interessengruppen zu scheitern?
Corbyn und seine Umgebung wussten, dass wachsende Ausgaben der öffentlichen Hand der institutionellen Innovation bedurften. Sie wollten eine Nationale Investitionsbank und einen Grünen Transformationsfonds etablieren, die – milliardenschwer – große ökologische und soziale Projekte zu finanzieren hatten. Allein 250 Milliarden Pfund sollten innerhalb eines Jahrzehnts in den Transformationsfonds fließen, um klimaneutrale Industrien, einen emissionsfreien öffentlichen Nahverkehr und energieeffiziente Gebäude zu fördern. 150 Milliarden Pfund waren bis 2025 für einen sozialen Transformationsfonds vorgesehen, um den Jobwechsel von Arbeitnehmern in klimaneutrale Branchen zu erleichtern. Rekommunalisierte Energie- und Verkehrsbetriebe sollten dabei ebenso helfen wie eine bis dato unbekannte Wirtschaftsdemokratie in allen Formen, von Genossenschaften bis zur Teilhabe am öffentlichen Eigentum, von Arbeitnehmerfonds bis zur Aktionärsdemokratie. Labour wollte mit verschiedenen Formen des Gemeineigentums experimentieren, um Unternehmen dauerhaft auf den Pfad der Gemeinnützigkeit zu bringen.
Als zentrales Element der Labour-Arbeitsmarktreform sollte ein Nationaler Ausbildungsdienst organisiert werden, um Berufsausbildung, Umschulung und lebenslanges Lernen für alle als Recht zu verankern. Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sollten einer Grundsicherung weichen, für die alle aufkommen. Da es bereits eine Nationale Pensionsversicherung gibt, in deren Kassen alle einzahlen, war diese Reform sehr viel eher ins Werk zu setzen als in Deutschland.
Das gute Leben ernst nehmen
Elende ideologische Dichotomien wie Markt und Staat, die in Deutschland jede Debatte verkleben, hatte Labour 2019 hinter sich gelassen. Natürlich kann eine neue Industriepolitik so wenig dekretiert werden wie eine weitere industrielle Revolution oder gar eine grüne. Aber über unerlässliche Kriterien kann man sich verständigen. Doch zeigte Labour zwischen 2017 und 2019 Wagemut und wollte vom üblichen quantitativen Surplus hin zu einem Bündel qualitativer Wachstumsziele. Maßstab für einen „grünen Kapitalismus“, der auf der Insel bisher nicht viel zu melden hat? Die sozialdemokratische Volkspartei, immer noch gut für mehr als 30 Prozent Wählerstimmen, verpflichtete sich, das gute Leben heutiger und kommender Generationen ernst zu nehmen.
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