Jetzt gehts los mit Europa

EU Angela Merkels und Emmanuel Macrons Plan für einen europäischen Wiederaufbaufonds birgt die riesige Chance, die Union aus Jahren der Stagnation herauszuführen
Der französische Präsident und die deutsche Kanzlerin bei ihrer Videokonferenz am Montag dieser Woche
Der französische Präsident und die deutsche Kanzlerin bei ihrer Videokonferenz am Montag dieser Woche

Foto: Kay Nietfeld/POOL/AFP via Getty Images

Es ist eine historische Wende, ein gigantischer Sprung über den eigenen Schatten. Kaum jemand hätte Angela Merkel so viel Mut noch zugetraut – nach über drei Jahren fortdauernden Abblockens und Aussitzens aller Reformvorschläge, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron immer wieder vorgetragen hat. Der Reformwille der Franzosen scheiterte zuverlässig an der Sturheit der eisernen Kanzlerin, das deutsch-französische Tandem schien endgültig zerbrochen.

Nun also, im Angesicht der größten Krise, die Europa und die Welt seit Generationen erlebt haben, die große Kehrtwende. Der deutsch-französische Plan für einen europäischen „Wiederaufbaufonds“ in Höhe von 500 Milliarden Euro markiert einen möglichen Neustart des europäischen Projekts, nach Jahren der Stagnation. Die deutsch-französische Initiative setzt ein Signal gegen die Kleinstaaterei, gegen die Fluchtreflexe zurück hinter die Grenzen des eigenen Zwergstaats, die unverzüglich griffen, sobald die Pandemie sich bemerkbar machte. Viren kümmern sich nicht um nationale Grenzen, genauso wenig wie CO2-Emissionen. Statt dem Trugbild einer längst illusorischen „nationalen Souveränität“ nachzujagen, setzen Merkel und Macron auf die „europäische Souveränität“ in Sachen Gesundheitsschutz, Klimaschutz, Forschung und Technologie. Europa kann und soll seine Stärken ausspielen. Das geht nur, wenn sich die Europäer von nationalen Egoismen und „Standortkonkurrenz“ jeder gegen jeden verabschieden. Auch wenn der Plan nur zum Teil gelingt, werden wir nach der Krise eine stärker integrierte, handlungsfähigere EU haben.

Das war überfällig

Zwar bleibt das finanzielle Volumen des Krisenpakets weit hinter den 1,3 bis 1,5 Billionen Euro zurück, die die Franzosen ursprünglich vorgeschlagen hatten. Es ist aber deutlich mehr als die 320 Milliarden Euro, die die Europäische Kommission bisher vorgeschlagen hat. Der Wiederaufbaufonds soll in den EU-Haushalt integriert werden, was die Europäische Kommission und das Europäische Parlament stärkt. Die begrüßen den Plan, beide werden alles tun, um die damit angestoßene Aufstockung des EU-Haushalts zum Erfolg zu führen. Überfällig war sie seit langem.

Merkel ist etlichen Ideen Macrons gefolgt: Europa soll zukünftig Kompetenzen in der Gesundheitspolitik bekommen, gemeinsame Forschung, gemeinsame Lager- und Produktionskapazitäten für Medikamente und medizinische Geräte. Die pharmazeutische wie die medizinisch-technische Industrie – samt Forschung - werden als „strategische Industrien“ für die gesamte Union ausgezeichnet. Sie sind nicht die einzigen Industrien, von denen Europas Zukunft und Sicherheit abhängen. Gelingt der Plan (auch nur zum Teil), werden wir eine europäische, grenzüberschreitende Industriestrukturpolitik bekommen, mit regionalen Schwerpunkten.

Da es sich um Mittel des EU-Haushalts handelt, werden sie über Projekte vergeben, landen also nicht zur freien Verfügung in den Haushalten einiger Mitgliedsländer. Das ist eben keine Verteilung von Geldgeschenken, sondern ein Instrument gezielter Investitionen der Gemeinschaft in relevante Industrien und Regionen. Mittel aus diesem Fonds bekommt nur, wer sinnvolle Investitionsvorhaben präsentieren kann – und wer Auflagen und Bedingungen akzeptiert. Fördergelder abgreifen und weiter Nationalsüppchen kochen, das wird zwar nicht völlig aufhören, aber es soll Profiteuren wie Viktor Orbán schwerer gemacht werden.

Europaweites Eisenbahnnetz

Wenn alles nach Plan läuft, werden die Mittel aus dem Wiederaufbaufonds an Regionen in Europa, nicht an einzelne Mitgliedsstaaten fließen. Im Idealfall also an Gemeinschaftsprojekte, die in europäischen Regionen, grenzübergreifend, realisiert werden. Die Praxis gibt es längst, dank der bislang leider winzig kleinen europäischen Fonds (Regionalfonds, Kohäsionsfonds usw.). Das läßt sich fortsetzen, z.B. in Tirol und in Savoyen, im Baskenland, in Katalonien, in Flandern und Friesland, um nur einige Regionen zu nennen. Und sie läßt sich leicht erweitern – auf solche Projekte, die für viele Regionen und Länder in Europa zugleich wichtig und dringend sind. Ein europaweites Eisenbahnnetz, ein europaweites Netz der Stromversorgung, eine europaweite Berufsausbildung zum Beispiel. Was China und Japan können, sollten die Europäer schon lang können.
Was die Anhänger vermeintlich reiner Lehren der „Marktwirtschaft“ besonders fuchst: Dieses Mal sollen Nägel mit Köpfen gemacht werden. Statt Geld zu verteilen und „den Markt“ machen zu lassen, soll auf allen Ebenen und in allen Phasen eingegriffen werden, mit Vorgaben und Plänen, an denen europäische Institutionen vom Anfang bis zum Ende beteiligt werden. Ein Kernelement der Marktideologie wird geschleift: der Glaube, „der Markt“, d.h. private Unternehmen könnten alles besser als jede öffentliche und demokratisch rechenschaftspflichtige Institution. Wer Gelder aus dem Wiederaufbaufonds haben will, wird sich eine direkte Beteiligung der EU gefallen lassen müssen. Der Staat bzw. die EU zahlt und hat ferner zu schweigen, dieses „Geschäftsmodell“ ist passé.

Endlich soll getan werden, was schon vor Jahren hätte getan werden müssen: es wird Transferzahlungen innerhalb der EU geben, es wird gemeinsame Schulden geben, die EU wird nicht nur höhere Eigenmittel, sondern auch das Recht jedes Souveräns bekommen, Kredite aufzunehmen. Ohne dieses Recht – und seine Konsequenzen, also die eigene Steuerhoheit der EU – gibt es keine stabile Gemeinschaftswährung und keine voll handlungsfähige und gegenüber den Gliedstaaten unabhängige Zentralbank. Merkel hat sich im Angesicht der größten zu erwartenden Krise aufgerafft und ist über den langen schwarzen Schatten der in Deutschlang lange bestgeglaubten Dogmen gesprungen. Merkel und Macron haben die Reizvokabeln Euro- oder Corona-Bonds sorgfältig vermieden. Aber in der Sache geht es eben genau um gemeinschaftliche Schulden aller EU-Länder, die gemeinschaftlich getragen und für die gemeinschaftlich gehaftet wird. Wie die Anleihen heißen, ist völlig egal, wie sie ausgestaltet werden, ist nicht ganz unerheblich, denn das Narrativ derjenigen, die bei Europa immer zuerst ans eigene Portemonnaie denken, beruht ja nach wie vor auf der Stammtischidee, Schulden müssten immer zurückgezahlt werden. Müssen sie nicht, schon gar nicht, wenn es sich um Schulden solventer und ökonomisch potenter Staaten handelt, erst recht nicht, wenn es sich um gemeinschaftliche Schulden der Staaten handelt, die zusammen den nach wie vor die mit Abstand stärkste Wirtschaftsmacht der Welt bilden. Die Techniken der „ewigen Staatsschuld“ sind Europa seit dem 18. Jahrhundert wohl bekannt, offenbar leider nicht in Deutschland.

Das Undenkbare ist plötzlich denkbar geworden. Die europäischen Verträge – Maastricht und Lissabon – müssen und können verändert werden. Um die berühmt-berüchtigten Verschuldungsregeln des Maastricht Vertrags ist es nicht schade. Sie waren in Schönwetterzeiten irrelevant, zu allen anderen Zeiten nur schädlich. Ebenso wie die No-Bailout-Klausel, die nur als Vorwand für nationale Egoismen und unsinnige Austeritätspolitik gedient hat. Europäische Solidarität heißt eben, dass man sich nicht mit der Rolle des lachenden Profiteurs begnügen kann, sondern die Lasten der anderen – verschuldet oder nicht – mitzutragen hat. Die Corona-Krise hat nichts mit nationaler Misswirtschaft zu tun. In dieser Krise begreifen wohl alle, dass man sich gelegentlich zum Nutzen aller heftig verschulden muß, statt reflexhaft die Steuer- und Sparschrauben anzuziehen.

Club der Verhinderer

Der Anfang, ein großer Schritt nach vorn ist gemacht. Merkel hat den Kampf gegen die Wutbürgerei im eigenen Land aufgenommen. Da scheint das Bundesverfassungsgericht mit seinen falschen Konzessionen an den ökonomischen Unverstand der deutschen Eliten einen weiteren Auslöser geliefert zu haben. Zur Unzeit und ohne Not wird der EZB ihr Geschäft erschwert, Merkel kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Geldpolitik ihr Zeit zum Nichthandeln kauft. Mit den Mitteln, die der EZB zur Verfügung stehen, mit Geldpolitik allein ist die jetzige Krise nicht zu bewältigen. Ebenso wenig wie die vorige es war. Die Lektion immerhin scheint in Berlin gelernt worden zu sein: Man kann sich nicht endlos darauf verlassen, dass die EZB einem die nötige Zeit zum wirtschaftspolitischen Handeln schon kaufen werde – und dann diese Zeit ungenutzt verstreichen lassen. Gekaufte Zeit muss genutzt werden, eine expansive Geldpolitik wirkt nur expansiv, wenn sie von einer mindestens ebenso expansiven Finanzpolitik begleitet wird.

Den Querulanten im Osten Europas wird nichts weggenommen, im Gegenteil. Daher dürften die Visegrád-Staaten außer Gefeilsche um ein paar Milliarden dem Plan keinen großen Widerstand entgegensetzen. Anders steht es mit dem rein ideologisch bestimmten Widerstand der sogenannten Nordländer, mit Österreich und den Niederlanden an der Spitze. Dem Club der Verhinderer sind mit Merkel und der Bundesrepublik die stärksten Bataillone von der Fahne gegangen. Zum Glück sind wir die Briten los, die sonst alles blockiert hätten. Kurz und Rutte führen schon jetzt ein Rückzugsgefecht: Sie wollen Kredite statt Zuschüssen. Sie wollen ihr Geld zurück, wenn auch später. Den Herren kann geholfen werden, und zwar auf der Höhe heutiger Finanzkunst. Kredite mit Laufzeiten von 50 oder 100 Jahren sind nichts Ungewöhnliches. Es gibt sogar schlafende Kredite, die erst dann zurückgezahlt werden, wenn der Schuldner dazu in der Lage ist. Die EU kann sich zwar nicht zu Negativzinsen verschulden wie die Bundesrepublik Deutschland das im Moment kann. Aber die Zinsen für EU-Anleihen (vernünftigerweise in Euro denominiert) werden nur um ein Geringes höher ausfallen als die Zinsen auf Bundesanleihen. Die Finanzmärkte werden sich um sie reißen, ebenso wie um die Anleihen und Aktien der „strategischen Zukunftsindustrien“ Europas.

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