Eigentlich halten die Briten das Patent auf exzentrisches Verhalten. Aber die EU-Kommission und Italiens Regierungskoalition aus Lega und Movimento 5 Stelle (M5S) machen ihnen erkennbar Konkurrenz. Nach einigen Monaten Pause liefern sich Brüssel und Rom erneut einen Schlagabtausch beim Dauerstreit über die Staatsschulden. Kurz nach der EU-Wahl, den Wahlerfolg der Lega fest im Blick, hat die Kommission ein Verfahren gegen die Regierung von Premier Conte wegen des Überschreitens der Defizitgrenze von drei Prozent empfohlen, was mit einer Geldstrafe enden kann. Brüssel wolle die Regierung stürzen, vermutet Vizepremier Luigi Di Maio (M5S), nicht ganz abwegig, doch heftig übertrieben. Silvio Berlusconi (Forza Italia) konnte 2011 zugunsten eines Technokraten-Kabinetts aus dem Amt gedrängt werden, nachdem er die parlamentarische Mehrheit verloren hatte. Für die derzeitige Koalition besteht diese Gefahr kaum. Sollte sie wegen interner Querelen fallen, dürfte Matteo Salvini mit der Lega einen Erdrutschsieg einfahren und womöglich allein regieren.
Unschuldiges Detail
Vor Monaten wurde der Streit um das geplante Defizit zunächst beigelegt, weil Rom nachgab. Nun aber handelt Brüssel aus Angst vor der rechtspopulistischen Welle, die schwer zu stoppen scheint. Übertrieben wirkt dabei die Warnung vor einer neuen Eurokrise. Käme es dazu, würde nicht allein Italien, sondern die Lage der Währungsunion insgesamt dafür sorgen. Seit langem überfällige Reformen kommen nicht voran, weil sie von der deutschen Regierung mit bemerkenswerter Sturheit verhindert werden. Sollte Italien in eine Finanzkrise abgleiten, geriete der Euro auch deshalb unter Druck, weil die EZB ihr Pulver mit der Nullzinspolitik verschossen hat.
Bei Gesamtschulden von gut 132 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung zahlt Italien für am internationalen Finanzmarkt aufgelegte Staatsanleihen inzwischen Risikoaufschläge von 2,52 Prozent, nicht wenig in Zeiten von Negativ- und Nullzinsen. Daher sind diese Staatspapiere eher begehrt als verfemt, wird doch jede neue Anleihe oft fünf- bis sechsfach überzeichnet. Das heißt, die Regierung in Rom hat momentan keinerlei Schwierigkeiten, Schuldentitel zu refinanzieren. Demnach verheißt eine Schuldenquote von 132 Prozent des BIP keine akuten Zahlungsschwierigkeiten. Italiens Schuldenberg muss notgedrungen wachsen, gedenkt die Lega-M5S-Allianz ihre Wahlversprechen zu erfüllen. Innenminister Salvini will die Steuern weiter herunterfahren, die Fünf-Sterne Bewegung den Anstieg bei Renten und Mindestlohn durchziehen, sodass die Neuverschuldung durch den im Herbst zu erwartenden Haushaltsplan noch einmal um ein oder zwei Prozent wachsen dürfte.
Es sind Inländer, die den größten Teil der Schuldentitel des italienischen Staates gezeichnet haben. Der Anteil externer Verbindlichkeiten liegt unter 40 Prozent. Wichtigste Gläubiger sind die Banca d’Italia und die EZB, die mit nahe 400 Milliarden Euro ein Fünftel aller Staatsanleihen halten. Ein weiteres Fünftel teilen die Geldhäuser Unicredit, die Intesa San Paolo, die Banco BPM und die wacklige Banco dei Paschi di Siena untereinander auf. Für ein weiteres Fünftel sind Investment- und Pensionsfonds sowie Lebensversicherungen zuständig. Ein Finanzcrash würde daher vorrangig die ohnehin mit Schrottkrediten belasteten einheimischen Finanzinstitute treffen, dazu einige französische, belgische und spanische Großbanken, deutsche Gläubiger kaum.
Bisher reagieren die Finanzmärkte gelassen auf die Ausgabenpläne der Regierung Conte, bestenfalls ein Schub bei den Risikoaufschlägen zeichnet sich ab. Im Übrigen können die EU-Finanzminister ein Defizitverfahren jederzeit auf Eis legen. Womit zu rechen ist. Wie sollte sonst mit Frankreich verfahren werden, dessen Staatsschulden bei gut 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen?
Nervös wird die EU-Kommission augenblicklich nicht allein wegen des höheren Staatsdefizits in Italien, sondern auch wegen eines scheinbar unschuldigen technischen Details. Das Parlament in Rom hat vor Wochenfrist mit großer Mehrheit ein Finanzinstrument beschlossen, das der Regierung mehr Spielraum verschaffen soll: sogenannte Mini-BOTS, kurzfristige Anleihen in ganz kleiner Stückelung, die für Beträge von 100, 200 und 500 Euro ausgegeben werden sollen. Damit kann Pietro Normalverdiener Staatsanleihen kaufen und dafür Zinsen kassieren. Solche Papiere lassen sich leicht unters Volk bringen, vor allem wenn man damit seine Steuern zahlen kann. EZB-Präsident Mario Draghi meint, mit Mini-BOTS drucke die Regierung Conte entweder Geld, was sie nicht dürfe, oder vergrößere den Schuldenberg. Nicht ganz nachvollziehbar, denn Schuldscheine des Staates, die als Zahlungsmittel fungieren, gibt es seit langem. Falls Italiens Regierung auf dieses Vehikel überhaupt zurückgreift. War doch das Votum des Parlaments nicht bindend, sondern als Option gedacht. Werden mit Mini-BOTS Steuern gezahlt, gibt es keinerlei inflationäre Effekte, die schon deswegen ausbleiben, weil die italienische Ökonomie nicht unausgelastet ist.
Lebhafter Applaus
Salvini und Di Maio müssten schon sehr viel schwereres Geschütz auffahren, um die Kreditwürdigkeit ernsthaft zu beschädigen und Investoren in Aufruhr zu versetzen. Wie schon oft bekämpft die Mehrheit der EU-Kommissare die Abkehr von der Austerität, also ungefähr das Einzige, was man den Fünf Sternen nicht vorwerfen kann. Und überhaupt, Salvinis bereits durchgesetzte Steuersenkungen müssten den neoliberalen Hardlinern eigentlich gefallen. Nur leider kosten sie Geld.
Wie gehabt unter lebhaftem Applaus aus deutschen Landen, reitet die Kommission auf den heiligen Budgetregeln herum. Obwohl sich vielerorts in Europa – allerdings nicht in Berlin – herumgesprochen hat, dass sie nichts taugen. Weshalb die Kommission und der Europäische Rat Verstöße wieder und wieder toleriert haben. Und wohl auch diesmal hinnehmen werden. Es wäre besser und täte der Wirtschaft nicht nur in Italien gut, wollten sich alle Akteure innerhalb der EU endlich ehrlich machen und die Budgetregeln des Maastricht-Vertrages wie des Stabilitätspaktes revidieren.
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