Nun da Frankreichs nächster Präsident François Hollande heißt, wird es mit der deutsch-französischen Dampfwalze fürs Erste vorbei sein. Im Wahlkampf hat der sozialistische Bewerber oft genug wissen lassen – egal, was man in Berlin darüber denke – er stelle den Fiskalpakt in seiner jetzigen Form infrage. Nur im Tausch gegen EU-weite Programme für Wachstum und Beschäftigung, gegen die Einführung von Eurobonds und einer Finanztransaktionssteuer werde er diesen Vertrag absegnen. Das trifft die Stimmung in Frankreich, aber inzwischen auch in anderen Euro-Ländern. Die Reaktion von Kanzlerin Angela Merkel fällt erwartbar missmutig aus. Erneutes Verhandeln über das vom EU-Gipfel im Dezember vereinbarte Projekt schließt sie aus. Beschlüsse über eine europäische Wachstumsstrategie beim EU-Gipfel Ende Juni seien freilich denkbar.
Der Basta-Stil, mit dem Merkels Regierung als oberster Sparkommissar überall in Europa hineinregiert und Sanierungsdiktate durchsetzt, verfängt immer weniger. EU-weit setzt sich die Meinung durch, dass der angeblich überforderte Zahlmeister die Lage in der Eurozone verschlimmert hat, als er Bausteine für die Brandmauer verweigerte – die dringend gebrauchten zusätzlichen Garantiesummen, um die EU-Krisenfonds aufzustocken.
Wie sehr derzeit die Finanzkrise zur materiellen Gewalt werden kann, zeigt sich am Beispiel Spanien. Die Regierung von Premier Mariano Rajoy erfüllt penibel alle Wünsche aus Berlin, schrumpft ihren Staatshaushalt und bringt einschneidende Strukturreformen für den Arbeitsmarkt auf den Weg. Das Ergebnis: 5,6 Millionen Arbeitslose (Quote: 24,4 Prozent), das sind 730.000 mehr als im April 2011 und 3,8 Millionen mehr als im April 2005. Gleichzeitig wird das Land von der Rating-Agentur Standard Poor’s durch das Zertifikat BBB+ (gleich: spekulativ) mit Staaten wie Malta, Zypern und der Slowakei gleichgestellt. Ihre Herabstufung bedenken S ausdrücklich mit dem Hinweis, dass der jetzige Wirtschaftskurs auf kein Wachstum hoffen lasse und die Bonität deshalb leide. Wie gedenke der spanische Staat bei der von ihm verursachten Rezession seine Schulden zu tilgen?
Merkels Fahrplan
Die mit einer Liquiditätsschwemme der Europäischen Zentralbank (EZB) erkaufte Atempause bei der Euro-Rettung ist vorbei. Merkels Fahrplan gerät durcheinander und dürfte vollends Makulatur sein, sollte es in Paris einen Regierungswechsel geben. Der jüngste Kapitalschub für den Rettungsschirm, das Vorziehen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM auf den 1. Juli und der Fiskalpakt waren stets als Junktim gedacht. Die Conditio sine qua non lautete: Hilfsgelder aus dem ESM erhalten nur Länder, die den Fiskalpakt ratifiziert und damit die Schuldenbremse dekretiert haben. Es ist absehbar, wie schwierig das wird.
Selbst mit einem Stimmgewicht von über 27 Prozent kann Deutschland im ESM nicht allein entscheiden. Deshalb ja der Versuch, alle übrigen Euroländer in den Schraubstock des Fiskalpakts zu zwängen. 25 EU-Staaten haben dessen Vorgaben zugestimmt, das griechische und portugiesische Parlament – mit der Pistole auf der Brust – den Vertrag sogar bereits ratifiziert. Dennoch sieht es im Augenblick, wenige Monate nach Merkels scheinbarem Triumph, nicht mehr nach einem Durchmarsch aus.
Die Zweifel wachsen, nicht nur bei den Regierenden, sondern auch bei Investoren wie Analysten auf den Finanzmärkten. Die verheerenden Folgen einer Sparpolitik auf Biegen und Brechen, die immer mehr Länder Europas in eine Depression treiben, sind in Griechenland ebenso sichtbar wie in Portugal, Spanien oder Italien. Großbritannien steckt dank einer brutalen Sparpolitik der Koalition von Premierminister David Cameron erneut tief in einer Rezession – der gefürchtete double dip ist prompt eingetreten. Überall, außer in Deutschland, steigen die Arbeitslosenzahlen dramatisch, besonders bei den unter 25-Jährigen, so dass es auch den härtesten Spargrafen mulmig wird.
Der spanische Premier Rajoy, sein italienischer Amtskollege Mario Monti wie auch EZB-Präsident Mario Draghi rufen einmal laut, dann wieder verhalten nach der europäischen Wachstums- und Strukturpolitik. EU-Ratspräsident Herman van Rompuy setzt unabhängig von Merkel eine europäische Wachstumsstrategie auf die Tagesordnung anstehender EU-Gipfel. In der EZB sind die Vertreter der Bundesbank inzwischen völlig isoliert, die deutsche Sozialdemokratie wittert ihre Chance und will ein Plazet zu Merkels Fiskalpakt möglichst teuer erkauft sehen.
Wenn die Kanzlerin mit ihrer moralisierenden Ökonomie von Schuldenbremse und Haushaltsdisziplin nicht weiterkommt, wird sie den Beweis von Flexibilität kaum schuldig bleiben, um vom Fiskalpakt zu retten, was zu retten ist. Auch Merkel und ihr Wirtschaftsminister Philipp Rösler führen die Floskel vom „Wachstum“ gerne im Mund. Doch versteht die Regierung in Berlin darunter etwas anderes als etwa François Hollande oder Jean-Luc Mélenchon, im ersten Wahlgang Präsidentschaftskandidat des Front de Gauche. Die französische Linke denkt an einen Marshall-Plan für Europa, eine Wachstums- und Strukturpolitik, die dem wirklichen Problem der Eurozone gewachsen ist: dem Gefälle beim Produktivitätsniveau, bei der Beschäftigung und im Außenhandel.
Da fast alle Parteien in Deutschland blind auf die Staatsschulden starren, sind ihnen die Disparitäten völlig aus dem Blick geraten, die sich infolge eines ungebremsten Wettbewerbs der Mitgliedsländer aufgebaut haben – vorrangig dank des Konkurrenzdrucks, den die deutsche Exportwirtschaft erzeugt hat.
Nicht die „Wettbewerbsfähigkeit“ Griechenlands, Spaniens oder Portugals auf den Weltmärkten an sich ist das Problem, sondern die Konkurrenz innerhalb der Eurozone. Wer die Währungsunion erhalten will, wird sie zur Wirtschafts- und Fiskalunion erweitern müssen, um diese teils zerstörerische Rivalität erfolgreich zu regulieren.
Michael R. Krätke lehrt Ökonomie an der Universität Lancaster. Er schrieb im Freitag zuletzt über die Frühjahrstagung von IWF und Weltbank
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