Auch wenn die Briten raus sind aus der EU, reißen die Kontroversen nicht ab. Einmal eskaliert der Streit mit Brüssel um Fischereirechte in der Nordsee, dann um Migranten im Ärmelkanal oder um die Rechte auf der Insel verbliebener EU-Bürger. Nun also das Nordirland-Protokoll. Das galt als Geniestreich von Premierminister Boris Johnson, mit dem er festgefahrene Verhandlungen über den Ausstieg wieder flottbekam. Doch kaum war alles unterschrieben, verlangte er, den Exit neu auszuhandeln – vor allem wegen dieses Protokolls. Das sieht eine Zollgrenze zwischen diesem Teil des Vereinigten Königreichs und dem Rest vor, um eine offene Grenzen zwischen Nordirland und der Republik Irland zu erhalten. Demnach muss seit Anfang 2021 aller Warentransfer aus England, Schottland und Wales nach Nordirland kontrolliert werden. Es gelten Übergangsfristen, die London einseitig verlängert hat, wogegen die EU juristisch vorging. Nordirische Unionisten veranstalteten tagelang Unruhen. Ihr Zorn galt Boris Johnson, der faktenfrei behauptet hatte, es werde keine Grenze und keine Kontrollen in der Irischen See geben.
Vor einem Jahr hatte der Premierminister gedroht, falls die EU nicht nachgebe, werde er jeden Brexit-Vertrag zerreißen, nun tönen die Konservativen im Unterhaus: Wir werden internationales Recht brechen, „in begrenzter und spezifischer Weise“. Was sich daraus an Ansehensverlust ergibt, interessiert in London wenig. Dort hatte man offenbar nie die Absicht, sich an das Abkommen zu halten. Die Unterzeichnung in allerletzter Minute, Heiligabend 2020, war nur ein Trick, um einen Ausstieg mit Vertrag über die Bühne zu bringen. Ian Paisley jr., Führungsfigur der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP), und Johnsons Ex-Chefberater Dominic Cummings haben derweil bezeugt, dass Johnson den Vertrag nur unterzeichnet habe, um nach vollzogenem Brexit die Teile zu annullieren, die ihm nicht gefielen. Man weiß seither, es gilt als britische Maxime, Übereinkünfte zu treffen, um sie nach Belieben zu brechen und obendrein jede Vermittlung zu verweigern. Britannia rules!
Warum eskaliert die Nordirland-Frage gerade jetzt? Es war klar, dass die Johnson-Regierung mit einseitig verlängerten Übergangsfristen – also der De-facto-Aussetzung des Protokolls – monatelang fortfahren wollte, da die EU-Kommission bisher kaum Widerstand leistete. Daher fürchtet Johnson nicht Brüssel, sondern die Nordiren. Die haben peinlicherweise kaum darunter zu leiden, was in England inzwischen Alltag ist: leere Regale, endlose Lieferfristen, fehlendes Personal von Erntehelfern bis zu Kraftfahrern, kilometerlange Schlangen vor Tankstellen, Produktionsstopps wegen fehlender Vorprodukte. In Nordirland gibt es derlei nicht. Wer will, kann sich ohne Weiteres in der benachbarten Republik versorgen. Vor dem Brexit war die Region ökonomisch weit stärker mit dem britischen Kernland verflochten als mit Irland, nun aber steigt dessen Anteil am nordirischen Außenhandel rapide, während der Großbritanniens sinkt.
Engelsgeduld der Kommission
Viele nordirische Unternehmen haben seit Jahresanfang ihre Lieferketten umgestellt. In Erwartung der Zoll- und Veterinärkontrollen in der Irischen See beziehen sie ihre Waren mittlerweile aus der Republik und finden dort Zulieferer. Wie die Handelsströme bereits umgelenkt worden sind, zeigt der nachgebende Warenumschlag englischer Häfen. Wenn dieser Trend anhält, wird ein Verbleib Nordirlands im Königreich immer unwahrscheinlicher, nicht nur wegen der Demografie, die längst den republikanischen Katholiken Nordirlands zum Vorteil gereicht. Für die Unionisten der DUP hat Boris Johnson wenig übrig, die nordirische Provinz behalten will er freilich schon.
Man kann die Engelsgeduld der Brüsseler Kommission nur bestaunen. Lammfromm wirkt der zuständige EU-Kommissar Maroš Šefčovič, wenn er beteuert, man wolle „konstruktiv, kreativ, engagiert“ eine Lösung finden. So laufen jüngste Vorschläge darauf hinaus, einen Großteil der laut Nordirland-Protokoll notwendigen Kontrollen zu unterlassen. Um zu ermitteln, welche Checks das sein könnten, hat die EU – ganz gegen ihre Gewohnheit – Beamte nach Nordirland entsandt, die intensiv mit unmittelbar Betroffenen sprechen sollten. Was dabei an Vorschlägen herauskam, ist ausgesprochen verbraucher- und unternehmerfreundlich, aber vergebliche Liebesmüh – es reicht London nicht. Prompt kam von dort die Forderung nach dem kräftigen Nachschlag, aber bitte recht plötzlich: Brüssel solle die vertraglich vereinbarte Rolle des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) als oberster Streitschlichter für Konflikte im irisch-nordirischen Verkehr streichen. Wenn nicht, droht Brexit-Minister David Frost, werde man die im Protokoll verankerte Notfallklausel in Anspruch nehmen und dieses einseitig aufkündigen.
Sich darüber zu einigen, ist ausgeschlossen. Selbst Nichtmitglieder der EU wie die Schweiz akzeptieren die Rolle des EuGH. Formelkompromisse mag es geben – Brüsseler Beamten sind findig –, aber der Vertrag ist irreparabel beschädigt, weil ein gegenseitiges Mindestvertrauen abhandenkam. Zu Recht warnt die Regierung in Dublin die Welt vor den Briten, die internationales Recht so gezielt wie skrupellos brechen und das für legitim halten als Raison d’Être eines „globalen Britanniens“.
Kommentare 11
Die britische Regierung unter dem ungekämmten Wirrkopf Johnson ist eine kriminelle Vereinigung und sollte von Brüssel auch so behandelt werden.
Ultimatum und bei Nichteinhaltung durch die Johnson-Bande, sofortiger Baubeginn von Grenzbefestigungen zwischen EU-Irrland und Nordirland.
Warum man in Brüssel lammfromm mit den Vertragsbrechern umgeht, sollte mal geklärt werden. Dies stellt ein Präzidenzfall dar und könnte andere Länder ermuntern, gleichermaßen zu verfahren.
Ach ja, das vermeintlich neue war doch von vorn herein klar: "Dort (in GB) hatte man offenbar nie die Absicht, sich an das Abkommen zu halten."
Ergo, es wurde ein "deal" geschlossen, der nie einer war. Und das wusste wohl auch die EU ... aber ein schein-deal-Brexit schien auch für Brüssel besser als ein no-deal-Brexit. In der selbsttäuschung war Brüssel schon immer (welt)spitze.
Und so wird es bleiben; der Brexit-vertrag wird vielleicht nicht zerrissen, aber still und heimlich in den papierkorb geworfen. Aber, so what? Passieren wird trotzdem nichts. Es werden weder kanonenboote aufgefahren um GB zu zwingen, noch werden die britischen inseln versinken, noch wird Brüssel in sack und asche gehen. Und der EuGH wird sich weiter selbstgefällig selbstermächtigen...
Die welt jedoch wird sich weiter drehen, GB und EU werden weiter handel treiben ... und verträge bleiben papiertiger - alles so wie in den guten alten zeiten. Weshalb also die ganze aufregung?
Dass die Schweiz den EuGH anerkennt, scheint mir so nicht mehr zu gelten, seit die Schweiz das Rahmenabkommen mit der EU verlassen hat. Und an der Bruchkante sind auch Polen und im Grunde auch das BVerfG tätig. Was da bröckelt, das ist die neoliberale Konzeption der Lissabon-Verträge und die verdanken wir maßgeblich GB. Vielleicht ergibt sich ja eine Chance für eine Vertragsrevision. Aber kein Thema für Linke, die sind mit Lifestylefragen ausgelastet.
Die deutschen Medien haben dort den totalen Durchblick:
Die dortigen Unruhen wurden von ihnen wochenlang "berichtet" ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wer denn diese spannenden Molotovparties eigentlich feierte.
Also erstmal klarmachen, daß wenn UK wieder zurück in EU will, man auf der richtigen Strassenseite zu fahren lernt.
"Es gelten Übergangsfristen, die London einseitig verlängert hat, wogegen die EU juristisch vorging."
Allerdings hat sie das Verfahren auf Eis gelegt, weil sie wohl inzwischen nachgeschaut hat, was sie da mit Artikel 16 des NI-Protokoll unterschrieben hat.
"... die Nordiren. Die haben peinlicherweise kaum darunter zu leiden, was in England inzwischen Alltag ist: leere Regale, .... In Nordirland gibt es derlei nicht."
Upps:
https://www.belfasttelegraph.co.uk/business/northern-ireland/spaces-on-northern-ireland-shelves-only-going-to-get-worse-says-food-sector-brexit-and-covid-crisis-blamed-for-perfect-storm-of-driver-shortages-40810547.html
"Wer will, kann sich ohne Weiteres in der benachbarten Republik versorgen."
Das ist jetzt etwas unlogisch. Wenn es doch in Nordirland angeblich keine Versorgungs-Engpässe gibt, warum sollten sich die Nordiren dann aus der benachbarten Republik versorgen?
"Man kann die Engelsgeduld der Brüsseler Kommission nur bestaunen. Lammfromm wirkt der zuständige EU-Kommissar Maroš Šefčovič, wenn er beteuert, man wolle „konstruktiv, kreativ, engagiert“ eine Lösung finden."
Wozu? Ich denke es ist alles ausverhandelt und die EU klagt jetzt.
"Sich darüber zu einigen, ist ausgeschlossen. Selbst Nichtmitglieder der EU wie die Schweiz akzeptieren die Rolle des EuGH."
Und was hat das jetzt mit dem VK zu tun, oder habe ich den Übernahme-Automatismus - wenn es doch die Schweiz akzeptiert - nur nicht verstanden?
"aber der Vertrag ist irreparabel beschädigt, weil ein gegenseitiges Mindestvertrauen abhandenkam."
Wann war es je vorhanden - von BEIDEN Seiten? Wurde hier nicht von Anfang an geschrieben, man könne der britischen Seite nicht vertrauen?
"Zu Recht warnt die Regierung in Dublin die Welt vor den Briten,"
Ich erinnere mich allerdings daran, dass Nordirland nicht den Briten, sondern der EU - wörtlich: einen Akt der Feindschaft vorwarf, als die über Exportverbote für Impfstoff auch nur nachdachte:
https://orf.at/stories/3199523/
Johnson. Erdogan. Orban. PIS-Regierung.
Mein Eindruck ist, dass niemand die Lappen von der EU noch ernst nimmt! Von daher wird es schon wieder "eine gemeinsame Lösung" geben!
Ich weiß nicht, ob die jemals ernst genommen wurden. Man hat erweitert nur um größer zu werden. Manche Länder haben einfach die Milliarden gesehen und nun wundert man sich, daß diese sonst an der EU keinerlei Interesse haben.
Auch würde ich ein großes Problem darin sehen, daß die EU sagt bis Januar letzter Termin, dann aber bis Mai auf jeden Fall, September aber schon und zum Schluß gibts einen faulen Kompromiss. Jede Regierung schert aus wenns unangenehm wird, meint dann wieder die EU ist an allem Schuld.
Die EU ist ein maroder Haufen und ist auch selbst daran schuld. Ebenso die Mitglieder. Die hohen Ziele kann man als gescheitert betrachten und der Rest der funktioniert kostet eine extreme Summe.
Staubsauger funktioniert, aber das wofür man wirklich zuständig wäre ist ein Chaos. Mit den evtl. Neuaufnahmen/Balkan wirds dann noch etwas schwieriger. Den Laden auflösen kann man auch wieder schwer, das würde noch mehr kosten.
Wenn in Frankreich und/oder Italien erst einmal Faschisten an der Macht sind, dann dürfte sich etwas tun! Ich habe mir übrigens sagen lassen, dass man in Italien durchaus verbreitet verstanden hat, weshalb das Land in der Falle sitzt und dass es innerhalb dieses Währungsregimes keinen Ausweg für sie gibt.
DE sollte sich langsam an den Gedanken gewöhnen, das FR, IT und die USA in spätestens ein paar Jahren autoritäre Regimes sein werden! Und dass die beiden Erstgenannten rationale Gründe haben werden, Deutschland zu hassen.
Im Prinzip stehe ich hinter dem Gedanken einer EU. Nur wie sie funktioniert oder organisiert ist macht mir von Jahr zu Jahr mehr Sorgen. Manche möchten eben nur abkassieren ohne etwas zu geben. Aber auch die fürchterliche und untransparente Bürokratie ist nicht nur ein Ärgernis.
Leider kann man auch keinerlei Bestrebungen erkennen etwas zu verbessern. Solange man daran verdienen kann bleibt es wie es ist. Wenn der Laden komplett verschuldet ist und keine Vorteile mehr daraus gezogen werden können, wird man wohl so nach und nach abspringen.
Die Briten also wollen ausgehandelte Verträge nicht einhalten? Solche schlimmen Finger! Machen die doch dasselbe wie so mancher Russland-Hasser es für Nord-Stream 2 fordern. Aber wenn "wir" so was machen ist das natürlich edel.
Die spinnen, die ...
UK - NZ Free Trade Agreement:
https://theconversation.com/old-wine-in-new-bottles-why-the-nz-uk-free-trade-agreement-fails-to-confront-the-challenges-of-a-post-covid-world-170621
"Ein weiteres Abkommen im TPPA-Stil wird uns in das gescheiterte neoliberale Projekt des 20 Jh bringen, wenn wir dringend ein neues Paradigma diskutieren und entwickeln müssen, das den Realitäten des 21. Jahrhunderts gerecht wird, ein Jh, das bereits von mehreren, potenziell existenziellen Krisen betroffen ist."
Gilt auch für Kontinental-Europa.