Power Play gegen Athen

Kompromisse Die Eurogruppe könnten Griechenland durchaus entgegenkommen, ohne das Gesicht zu verlieren
Ausgabe 08/2015
Kein Spielraum: die Finanzminister Spaniens, Belgiens und Frankreichs beim Krisentreffen in Brüssel
Kein Spielraum: die Finanzminister Spaniens, Belgiens und Frankreichs beim Krisentreffen in Brüssel

Foto: Emmanuel Dunand/AFP/Getty Images

Wenn man dem journalistischen Mainstream in Deutschland glauben darf, hat die Regierung Tsipras in nur drei Wochen Amtszeit mehr durcheinandergebracht als die Kleiderordnung auf dem Politparkett. Das Crescendo der Empörung hat freilich einen tieferen Grund als vermeintliche Unbotmäßigkeit in Athen. Die tatsächliche Gefahr droht nicht dem Euro. Weder das Syriza-Kabinett noch sonst eine Regierung in Euroland wollen einen „Grexit“. Was droht, ist das Ende einer ökonomisch unsinnigen Austeritätspolitik, an die sich die deutsche Kanzlerin und ihre Paladine um so heftiger klammern, je offenbarer ihr Scheitern für alle Beteiligten wird.

Statt ökonomische Argumente vorzutragen, schwingen die Austerianer nun die Moralkeule: Es breche mit dem geltenden Verhaltenskodex, wer Schulden nicht fristgemäß zurückzahle und Reformauflagen nicht länger erfüllen wolle. Unablässig wird wieder einmal insistiert, die Griechen hätten „über ihre Verhältnisse gelebt“. Doch das haben „die Griechen“ keineswegs. Das haben ihre Oligarchen, die den griechischen Staat seit jeher als Selbstbedienungsladen betrachten und behandeln. Sie haben von einer ökonomisch fatalen, vorzugsweise von sozialdemokratischen Pasok-Regierungen erwirkten Steuersenkungspolitik für Großunternehmen und Vermögensbesitzer profitiert – ganz nach neoliberalem Rezept. Bei den Privatisierungen, die von der Troika seit vier Jahren erzwungen werden, haben ebenfalls griechische Oligarchen ihren Schnitt gemacht. Zugleich waren sie – Troika hin, Troika her – ungestört damit beschäftigt, Milliarden an Kapital und Vermögen ins Ausland zu schleusen. So ist die Lage in Griechenland heute weit schlimmer als vor der Euro-Rettungspolitik.

60-zu-40-Modell

Pacta sunt servanda, tönt die deutsche Selbstgerechtigkeit. Auch Verträge, die mit der Pistole des Staatsbankrotts an der Schläfe zustande kamen? Jeder halbwegs studierte Jurist würde abwinken. Eine verfahrene Situation, es bleibt nur wenig Zeit. Spätestens in zwei Monaten sind in Athen die Kassen leer, da die Steuereinnahmen seit Dezember erneut einbrechen. Woher das Geld kommen soll, um die wichtigsten Wahlversprechen von Syriza – angehobene Renten und Mindestlöhne, Wiedereinstellungen im öffentlichen Dienst, Hilfsprogramme für die Ärmsten – zu finanzieren, ist unklar. Die Griechen reagieren auf die extreme Unsicherheit mit einem schleichenden Run auf die Banken, die bei der Europäischen Zentralbank (EZB) keine Staatsanleihen mehr hinterlegen können, um sich mit frischem Geld zu versorgen.

Dennoch gilt: Einen Bankrott in Athen und einen „Grexit“ kann sich die Währungsunion nicht leisten, auch wenn die direkten Verluste, etwa für Deutschland, zu verschmerzen wären. Also müssen die Euro-Finanzminister notgedrungen weiter mit dem griechischen Kollegen Yanis Varoufakis verhandeln. Der ist von seinen entschiedensten Forderungen zuletzt bereits abgerückt – von einseitiger Aufkündigung aller Vereinbarungen mit den Gläubigern und vom großen Schuldenschnitt. Was der Minister nun anstrebt – das sind eine langfristig tragfähige Schuldenregelung und Anpassung der „Reformauflagen“. Varoufakis erschien nie als notorischer Nihilist am Verhandlungstisch, sondern hat ein 60-zu-40-Modell vorgeschlagen. Danach will sein Land 60 Prozent aller externen Auflagen einhalten, dafür aber jenen Teil streichen, der mit dem Wirtschaftskurs von Syriza nicht kompatibel ist. Das heißt, die Regierung Tsipras stellt sich keineswegs grundsätzlich gegen Reformpolitik, sie hat im Gegenteil erklärt, viele der verlangten Einschnitte seien richtig, doch wolle man sie anders als die Vorgängerregierungen umsetzen.

Geschenk für Ultrarechts

Kann es dennoch einen Kompromiss geben, der den Griechen hilft und den Euroraum stabilisiert? Ein Schuldenschnitt würde im Moment wenig nützen. Schon jetzt zahlt Athen eher niedrige Zinsen auf ausstehende Verbindlichkeiten. Da der Löwenanteil der Hilfskredite bisher an europäische Banken und nur ein kleiner Teil in das griechische Staatsbudget geflossen ist, wäre es höchste Zeit, gerade dies zu ändern. Die Banken sind inzwischen gerettet – das Gros der griechischen Staatsschulden halten nun öffentliche Gläubiger.

Auch dürfte die Regierung Tsipras nichts gegen eine Reform des schwachbrüstigen griechischen Steuerstaates einzuwenden haben. Mehr Steuereinnahmen durch mehr Steuergerechtigkeit, eine Reform des öffentlichen Sektors, ein radikaler Abschied von einer Klientel-Wirtschaft, die den Staat in jeder Hinsicht lähmt – all das ist unstrittig. Die Syriza-Leute haben den unschätzbaren Vorteil, nicht zum alten System der Korruption zu gehören. Ihnen darf man abnehmen, dass sie wirklich gegen das Bakschisch-Regime des Klientelismus vorgehen wollen. Ein von Vetternwirtschaft befreiter Staat wäre in der Lage, wieder eine wirksame Wirtschafts- und Wachstumspolitik zu betreiben. Mithin der beste Garant für ein langfristiges Bedienen von Schulden, ohne auf die Krücke endloser Hilfskredite zur Refinanzierung angewiesen zu sein.

Deshalb wäre es geboten, Tsipras und Varoufakis entgegenzukommen und ihnen den finanziellen Spielraum zu gönnen, den sie für die einzig wichtigen Strukturreformen in Griechenland brauchen. Das kann auf verschiedene Weise geschehen: Man kann – wie von griechischen Ökonomen seit längerem angeregt – den Primärüberschuss beim Haushalt 2015 (also vor Schuldentilgung und Zinszahlung) statt der geforderten 4,5 Prozent auf 1,5 Prozent senken, sofern die dadurch gewonnenen Mittel in öffentliche Investitionen fließen (was in Berlin vehement abgelehnt wird). Die EZB könnte Athen kurzfristig aus der Klemme helfen, indem der Regierung Tsipras der Zugriff auf die Emergency Liquidity Assistance (ELA) wieder gewährt wird. Auf lange Sicht sollte der Varoufakis-Vorschlag greifen, die Rückzahlung von Staatsschulden an das griechische Wirtschaftswachstum zu koppeln. Ganz so, wie das im Londoner Schuldenabkommen von 1953 mit den westdeutschen Staatsschulden geschah.

Wird Syriza zur Kapitulation gezwungen, können sich die Rechtsnationalisten in Europa über ein großzügiges Geschenk freuen. Vom Front National bis zu der niederländischen Freiheitspartei wird man auf Wähler rechnen können, die auch wegen des Umgangs mit Griechenland Zuflucht bei den wahren EU-Nihilisten suchen.

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