Offiziell ist das griechische Balancieren an der Abbruchkante zum Staatsbankrott kein Thema, aber geredet wird darüber viel. Nur in der Abschlusserklärung der Frühjahrstagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank am Wochenende taucht Griechenland überraschenderweise gar nicht auf. Man weiß sowieso, der IWF als Großgläubiger Athens ist nicht willens, dem Schuldner irgendwelche Konzessionen zu machen. Zahlungsaufschub kommt nicht infrage, das gab es noch nie für einen OECD-Staat und nur ein einziges Mal für ein Entwicklungsland. Madame Christine Lagarde verkündet als IWF-Chefin kühl, da sei nichts zu machen. Den Griechen wieder Liquidität verschaffen, das sollen gefälligst die Euroländer selbst tun. Da vergisst Lagarde ganz gründlich, dass die IWF-Gewaltigen kräftig mitgestrickt haben, seit Merkel sie als Verstärkung für die gute Sache der Austerität ins Boot holte.
Finanzminister Wolfgang Schäuble nutzt Washington, um das Mantra der Austerianer zu verkünden, angereichert um die steile These, ob man Spanien, Portugal oder Griechenland nehme — es sei in jedem Fall ein Beweis dafür, dass er recht habe. Die Phantasten von Syriza hätten leider den schönen Aufschwung zerstört, der sich Ende 2014 für Hellas abzeichnete. Auf der Frühjahrstagung wagt es niemand, dieser Lüge zu widersprechen.
Wartet nur ab
Im Vorfeld ist freilich Erstaunliches passiert. Es gefiel den Herolden der Austerität nicht sonderlich. Die IWF-Ökonomen publizierten den World Economic Outlook, ihre alljährliche Prognose zu den allgemeinen Trends der Weltwirtschaft. Da fand sich manches revidiert, was im Januar 2015 noch anders formuliert war.
Die kurzfristige Prognose fällt nun für einige Regionen günstiger aus, selbst für die Eurozone. Dort soll es in diesem Jahr ein Wachstum von 1,5 – 2016 dann von 1,6 Prozent geben. Da können die USA mit eindrucksvolleren Quoten aufwarten, auch wenn die IWF-Prophezeiungen für 2015 und 2016 auf ein Plus von jeweils 3,1 Prozent zurückgenommen wurden.
Mittel- bis langfristig jedoch sieht es eher nach anhaltender Depression aus statt nach weltweiter Erholung bis hin zum erhofften Boom. IWF-Chefökonom Olivier Blanchard hat offenbar erhebliche Zweifel an einer von der US-Regierung verbreiteten Aufschwungspropaganda. Es werden da Wirtschaftsdaten bejubelt, die eher verdrießlich stimmen müssten: Steigende Immobilienpreise bei steigender Wohnungsnot, mehr prekäre Beschäftigung bei sinkenden Reallöhnen, kaum Inflation trotz anhaltender Geldschwemme. Für die Eurozone erschien die Warnung unüberhörbar: Wartet nur ab! Euch steht eine anhaltende Depression und folgende Stagnation ins Haus. Trotz niedriger Ölpreise, Nullzins-Politik der Europäischen Zentralbank und Euro-Abwertung ist kein selbsttragender Aufschwung in Sicht. Die Folgen der großen Finanzkrise von 2008 sind nicht überwunden, die Kluft bei der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Euro-Staaten wird tiefer, die öffentlichen und privaten Schulden verharren auf einem hohen Niveau. Schließlich: die Investitionsschwäche in Europa hält an, nicht zuletzt in Deutschland.
Und von den bisherigen Lokomotiven der Weltwirtschaft ist bis auf Weiteres nicht mehr viel Dampf zu erwarten: Russland legt beim Bruttoinlandsprodukt nur um 0,6 Prozent zu. Brasilien wandelt auf dem geraden Weg in die Rezession, China und Indien wachsen zwar weiterhin, aber sehr viel weniger als zuvor. Was empfehlen da die IWF-Ökonomen einigermaßen verschämt? Öffentliche Investitionen, besonders in den Schwellenländern täten not! Auch in der Eurozone sollte so verfahren werden. Minister Schäuble war nicht amüsiert.
Noch bemerkenswerter als diese Aufforderung ist das kleinlaute Eingeständnis der IWF-Ökonomen, dass die seit Jahr und Tag vorgeschriebenen Rosskuren der „Liberalisierung“, „Deregulierung“ und „Flexibilisierung“ keinen nachweisbar positiven Effekt auf Produktivität und Wirtschaftswachstum oder Arbeitsmärkte hatten. Im Gegenteil, Anfang März, gut einen Monat vor der Frühjahrssession, hat der IWF einen Report publiziert, in dem die Wirksamkeit von „Reformen“ zur Flexibilisierung von Arbeitsmärkten unter die Lupe genommen wird – mit dem gleichen Resultat. Die IWF-Ökonomen stehen inzwischen mit ihrer Einsicht nicht mehr allein.
So bemerkenswert dieser Abschied von einigen der bestgeglaubten Unwahrheiten des neoliberalen Glaubenskanons auch sein mag, so inkonsequent fällt er aus. In den Euro-Krisenländern lässt sich en détail studieren, wie die Austerität wirkt. Nämlich verheerend, was sofort deutlich wird, sobald man nicht ausschließlich auf hoch aggregierte Wachstumsraten starrt. Griechenlands ökonomischer Abfall ist ein Paradebeispiel für den ökonomischen Irrwitz, der von den Austeritätsdogmatikern gepredigt wurde. Vergleichbares ließe sich ebenso gut für Irland, Zypern, Portugal oder Spanien nachweisen.
Gunst der Stunde
Hätte Olivier Blanchard Mut und Ehrgeiz genug, würde er die Gunst der Stunde nutzen, um als Sankt Georg im Kampf gegen den austerianischen Drachen in die Geschichtsbücher einzugehen. Da den IWF-Autoritäten keine Alternativen einfallen, würde es ihrer Organisation gut zu Gesicht stehen, von finanzpolitischen Ratschlägen eine Weile abzusehen und sich stattdessen mit der Reform des eigenen Instituts zu befassen. Immerhin ist eine Neuverteilung von Kapitalanteilen, Sitzen und Stimmen prinzipiell beschlossen – seit 2010 schon. Vollzogen aber ist noch gar nichts. Seit Jahren hängt die IWF-Innovation – von einer Aufstockung des Kapitals bis zur Neuverteilung der Gewichte zwischen den großen und kleinen Wirtschaftsnationen – in der Luft. Nach wie vor können die USA mit ihrem Stimmenanteil jede essentielle Entscheidung blockieren. Oft geschieht das im Einklang mit den De-facto-Vetomächten Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die sich überfälligen Strukturreformen widersetzen. Eine veränderungsresistente Institution aber, die sich nicht von inneren Blockaden lösen kann, braucht niemand. Schon gar nicht als Pate von „Strukturreformen“, die man selbst nicht zustande bringt.
Deshalb genießen multilaterale Neugründungen wie die New Development Bank der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) mit Sitz in Shanghai oder die von Peking ins Leben gerufene Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) so viel Zuspruch. Eines nach dem anderen treten europäische Länder der AIIB bei. Auch die Schweiz und Norwegen sind mit von der Partie. Es könnte in absehbarer Zeit soweit sein, dass diese Institute dem IWF den Rang ablaufen, wenigstens in den Regionen der Weltökonomie, in denen die Souveränität der Staaten keinem Korpsgeist wie in der Eurozone geopfert wird.
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