Auf der Insel gibt es fast nur ein Thema: Warum übersteht Theresa May die Brexit-Scharmützel auch weiterhin? Gerade hat die Premierministerin einen zweitägigen Abstimmungsmarathon mit 14 Wahlgängen im Unterhaus politisch überlebt – dank Jeremy Corbyns Schützenhilfe. Auf dem Kontinent, sprich: in Europa, wie das in Großbritannien heißt, interessieren die Irrungen und Wirrungen dieses EU-Ausstiegs freilich immer weniger, abgesehen von den bedauernswerten Brüsseler Unterhändlern, die auf den nächsten komplett irrealen Vorschlag aus London warten müssen, um auch den bestimmt abzuweisen. Selbst das britische Publikum amüsiert die Seifenoper schon lange nicht mehr. Es ist einfach keine Entscheidung absehbar zwischen der Regierung und dem Lager der Brexit-Rebellen aller Parteien – der Tories, der Labour Party, der Liberaldemokraten und schottischen Nationalisten. Sie hätten eine Mehrheit, die Regierung zu stürzen, wären sie sich einig. Konsens herrscht bisher nur über die Variante Zollunion mit der EU, die auch Labour nach langem Widerstand der Corbynistas zwischenzeitlich unterstützt.
Als jetzt im Oberhaus die Lords Pläne von Theresa May mit deutlichen Änderungen an das Unterhaus zurückverwiesen, war das eine Steilvorlage für die Brexit-Rebellen. Im Unterhaus musste sie nur angenommen werden, sodass sich Labour-Chef Corbyn erneut die Chance bot, der Regierung im Parlament eine krachende Niederlage beizubringen, deren Rücktritt und Neuwahlen zu erzwingen. Nur hat der Oppositionsführer Theresa May wieder einmal den Job und den Tories die Macht gerettet. Augenscheinlich will er sich nicht offen gegen das Brexit-Chaos stellen. Folglich verdonnerte er die Labour-Abgeordneten zur Stimmenthaltung und schaffte es, die Labour-Fraktion im Unterhaus zu spalten, vom Ärger der braven Labour-Lords und wachsenden Frust seiner jugendlichen Anhänger ganz zu schweigen. Erneut hat die schwankende Haltung Corbyns, der sich von einer kleinen Anti-EU-Minderheit in der Labour Party gängeln lässt, dafür gesorgt, dass May und ihr Kabinett weiter dilettieren können.
Alarmierte Extremisten
Der Sache nach ging es vor Wochenfrist bei der Debatte um die Withdrawal Bill, also das Austrittsgesetz, um die Modalitäten des Exits, um die offene Frage der Grenze zu Irland und darum, ob und wie lange das Vereinigte Königreich in der beziehungsweise in einer Zollunion mit der EU verbleiben soll. Das wäre die Lösung des Nordirland-Problems, sagen die Befürworter – das wäre das Ende einer selbstständigen Handelspolitik, mit der Großbritannien wieder ganz groß werden könne, sagen die Gegner. Zugleich wurde die nicht ganz unwichtige Frage verhandelt, ob und in welchem Ausmaß die endgültige Entscheidung über die Art des Austritts und die künftigen Beziehungen zur EU von einem Votum des Unterhauses abhängen soll. Das „ob“ ist eigentlich keine Frage mehr, denn May hat mehrfach zusagen müssen: Das Verhandlungsergebnis wird als Gesetz im Parlament eingebracht. Es muss dort angenommen oder abgelehnt werden. Das lässt den Brexit-Extremisten in der Regierung und der Tory-Fraktion keine Ruhe, sodass versucht wird, dieses Prozedere mit allen Tricks zu verwässern. Daher ging der Streit nicht zuletzt darum, in welchem Maße das Votum des Unterhauses das Verhandlungsergebnis noch beeinflussen darf. Nach guter britischer Tradition würde ein negatives Votum die Regierung zurück an den Verhandlungstisch schicken. Im Hintergrund steht dabei die Frage, ob es nicht vernünftig und demokratisch korrekt wäre, den Briten bei einem weiteren Referendum Gelegenheit zu geben, sich für oder gegen eine bestimmte Variante des Ausstiegs auszusprechen.
Stand der Brexit-Gespräche
Grenze Nach dem Ausstieg der Briten aus der EU droht zwischen Irland und Nordirland eine „harte Grenze“, was dem Friedensprozess, der 1998 mit dem Karfreitagsabkommen begann, enorm schaden könnte. Entweder wird die Grenzfrage erst gelöst, wenn nach dem 29. März 2019 die künftigen Beziehungen zwischen Brüssel und London ausgehandelt werden – so lange bleibt es beim Status quo. Oder die Regeln des EU-Binnenmarktes und der Zollunion gelten in Nordirland einfach weiter. Dann würde die EU-Außengrenze nicht zwischen Irland und Nordirland, sondern zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs verlaufen.
Übergangsabkommen Nach dem EU-Austritt Großbritannien am 29. März 2019 soll es ein Übergangsabkommen geben, das den Zugang zu Binnenmarkt und Zollunion bis zum 31. Dezember 2020 garantiert und den „harten Schnitt“ vermeiden soll. Bedingung: Es muss ein Austrittsabkommen zustande kommen. Wenn nicht, haben sich ab 30. März 2019 die Regelungen zu Binnenmarkt und Zollunion zwischen Großbritannien und der EU erledigt.
Freihandelsvertrag Sollten für den Warenverkehr zwischen der EU und Großbritannien ab 30. März 2019 Zölle gelten, wäre der Abschluss eines Freihandelsvertrages zwischen London und Brüssel denkbar. Damit könnten sich beide Seiten die Meistbegünstigung zugestehen, sodass beim Handel mit der EU für Großbritannien die gleichen Vorzugsregeln greifen würden wie gegenüber Japan und – bisher – gegenüber den USA. Lutz Herden
Rechtzeitig vor der entscheidenden Abstimmung trat Phillip Lee, Staatssekretär im Justizministerium und Tory-Abgeordneter, zurück. Er könne den jetzigen Brexit-Kurs nicht weiterhin gutheißen. In seinem Wahlbezirk Bracknell im Westen Londons, wo internationale Unternehmen wie Siemens und BMW ihren Sitz hätten, sei ihm bedeutet worden, dass der Brexit den dort Ansässigen wie dem ganzen Land großen Schaden zufügen werde. Daher plädiere er dafür, sich die Zeit zu nehmen, um einen für die Ökonomie Britanniens kommoden Vertrag mit der EU auszuhandeln. Wenn nötig, sollte man um eine verlängerte Austrittsfrist nachsuchen oder eine Denkpause einlegen. Das hieße, den Austrittsprozess nach Paragraf 50 des Lissabon-Vertrages auszusetzen.
Die Tory-Rebellen gewannen damit für einen Moment Oberwasser, in den Medien wurde die bevorstehende Niederlage der Regierung May bereits durchgespielt, bis Corbyns Ukas das änderte. Er schwang die sprichwörtliche Peitsche (Whip ist die gängige Bezeichnung für die Wächter über die Fraktionsdisziplin im britischen Parlament.) und verdonnerte die Labour-Abgeordneten, sich zu enthalten. Die Premierministerin witterte Morgenluft. Sie spielt ohnehin auf Zeit, um in Downing Street 10 zu bleiben. Noch eine Weile, und ein möglicher Sturz Mays durch die Brexit-Hardliner hat sich erledigt, da jeder andere Premier mit dem gleichen Parlament weiterarbeiten müsste. Die Zeit für Neuwahlen vor dem entscheidenden Datum im November 2018 wird kaum noch reichen.
So wurde endlos darüber gestritten, wie „bedeutend“ (meaningful) das Votum des Unterhauses über den Austrittsvertrag sein darf. Gibt es ein klares Nein, was sind die Folgen? Sollte jetzt darüber gestritten werden, wenn doch jeder Parlamentsvorbehalt die britische Verhandlungsposition in Brüssel schwächt? May setzte sich schließlich mit dem Versprechen durch, sich wesentlicher Forderungen der Brexit-Rebellen zu einem späteren Zeitpunkt anzunehmen. Für die Abgeordneten der Schottischen Nationalpartei SNP war diese vage Zusage ein Affront. Sie verließen geschlossen den Saal, nach britischen Maßstäben ein Eklat.
So viel steht allerdings fest: Die Option, notfalls ohne einen Vertrag die EU im Crash-Modus zu verlassen, ist vom Tisch. Die Tory-Fraktion wird der Tory-Regierung in kein solches Abenteuer folgen. Sonst bleibt alles Wesentliche ungeklärt. Im Juli stehen die Abstimmungen über das eigentliche Handelsgesetz an, das künftig die Beziehungen zur Europäischen Union regeln soll – die nächste Chance zum Aufstand im Unterhaus. Vielleicht überwindet sich Jeremy Corbyn dann und gibt einen Oppositionsführer, der einer angeschlagenen Regierung die Gnade gewährt, um die sie bettelt – und Neuwahlen sind unausweichlich.
Spätestens im November muss ein Abkommen vorliegen, das unterzeichnet und anschließend von allen 27 Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten (dazu noch von einigen Regionalparlamenten) angenommen werden sollte. Die Übergangsfrist bis Ende 2020 muss Teil dieses Agreements sein. Michel Barnier, der Verhandlungsführer der EU, wird nicht müde, auf die eiserne Logik des Verfahrens zu verweisen. Bisher hat Theresa May in erster Linie mit sich selbst und ihrem Kabinett verhandelt. Was dabei herauskam, wurde der EU-Seite präsentiert und von der nur allzu oft verworfen. May musste zur Kenntnis nehmen, dass ihre Gesprächspartner nicht die Brexit-Ideologen in der eigenen Partei, sondern die Gesandten der EU-Zentrale sind. Und die wissen nur zu gut, dass die Stimmung auf der Insel längst gekippt ist. Eine klare Mehrheit hält diesen Brexit inzwischen für einen Fehler.
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