Tragischer Musterknabe

Italien Matteo Renzi ist an seiner Verfassungsreform mindestens so gescheitert wie an EU-Vorschriften, die er gehorsam erfüllt hat
Ausgabe 49/2016
Matteo Renzi hat Talent darin, sich Gegner zu machen
Matteo Renzi hat Talent darin, sich Gegner zu machen

Foto: Xinhua/Imago

Für Premier Renzi ist nach 1.000 Tagen Schluss. Der rottamatore (Verschrotter), der Anfang 2014 antrat, um das politische System und die Wirtschaft Italiens einer gründlichen Modernisierung zu unterziehen, hat das Referendum erstaunlich klar gegen eine ungeahnt breite Negativkoalition – von Mario Monti bis zu Rossana Rossanda, von ganz rechts bis ganz links – verloren. Der Noch-Premier offenbarte eine Sammelleidenschaft sondergleichen dabei, Gegner anzuhäufen. Darunter das Gros der politischen Klasse, die um Einfluss fürchtete, sollte es der Regierung gelingen, den Senat und die Regionen per Verfassungsnovelle zu entmachten. Doch haben ihn zugleich seine Arbeitsmarktreformen – in Deutschland als „Liberalisierung“ bejubelt – Rückhalt bei den Gewerkschaften wie beim arbeitenden Volk gekostet.

Nunmehr wird in Brüssel und Berlin beschwichtigt, was das Zeug hält: Das sei ein rein innenpolitisches Votum über ein rein innenpolitisches Thema gewesen. Es ging mitnichten um die EU und den Euro. Es handelte sich auch nicht um eine Abstimmung über eine Spielart von Austeritäts- und Reformpolitik, die zwischenzeitlich in Italien auf ebensolchen Widerwillen stößt wie anderswo. Nicht allein wegen der sozialen Hemmungslosigkeit, sondern ebenso wegen des ökonomischen Misserfolgs.

Es gab nach dem Renzi-Debakel – Mario Draghi sei Dank – keine Panik an den Finanzmärkten. Der Präsident der Europäischen Zentralbank kann sich mit seinem Aufkaufprogramm bestätigt fühlen und dasselbe verlängern. Es dürfte reichen, um italienische Staatsanleihen fürs Erste vor dem Ausverkauf zu bewahren. Allerdings ist die Höhe der Staatsschulden (135 Prozent des Bruttoinlandsprodukts/BIP) eine Bürde, die das Land zur finanziellen Dauerkrise verurteilt. In nur fünf Jahren – bis 2021 – muss der italienische Staat Anleihen in Höhe von über 742 Milliarden Euro refinanzieren, was bei einer schwelenden Bankenkrise brandgefährlich werden kann. Fast 20 Prozent beträgt der Anteil fauler Kredite in den Bilanzen, da zusehends mehr italienische Unternehmen und Haushalte nach Jahren der Krise außerstande sind, ihre Kredite zurückzuzahlen. Auf insgesamt 360 Milliarden Euro – von gut 1.658 Milliarden Euro an Privatkundenkrediten – belief sich die Summe der unsicheren Verbindlichkeiten schon Ende 2015. Davon galten 210 Milliarden Euro als „faule“ Kredite, also verloren, und 160 Milliarden als „Problemkredite“, von denen die Finanzhäuser bestenfalls einen Teil wiedersehen. Letztlich ist der Anteil abzuschreibender Gelder, die italienische Bankbilanzen belasten, mehr als doppelt so groß wie im europäischen Durchschnitt. Wollte man diesen Finanzsektor radikal sanieren, wären mindestens 150 Milliarden Euro fällig.

Fernab einer populistischen Haltung

Renzis Versuche, damit wenigstens anzufangen und entgegen den EU-Normen in den eigenen Staatshaushalt zu greifen, sind misslungen. Er hat alle Register gezogen, sich offen mit Brüssel und Berlin angelegt und sich eine Abfuhr nach der anderen geholt. Eine etwas flexiblere Auslegung der Spielregeln hätte ihm schon geholfen. Er hatte recht: Die neue Bail-in-Regel der EU-Bankenunion – erst müssen Eigentümer und Gläubiger selbst bluten – träfe in Italien die Falschen, nämlich Hunderttausende Kleinsparer und Kleinanleger, die gutgläubig Obligationen ihrer maroden Lokalbanken gekauft haben. Aber es gilt eben auch: Ein Land ohne nennenswerte Investitionsrate – das ein Viertel seiner Industrieproduktion verloren hat, in dem die Arbeitslosigkeit über elf Prozent liegt, in dem weiter 40 Prozent der 15- bis 24-Jährigen ohne Job sind – kann sich eine Radikalsanierung nicht leisten. Erst recht nicht ein impotenter Staat, der sich mit stets neuen Steuersenkungen nach neoliberaler Rezeptur an die Schuldenfalle kettet. Halbherzige Eingriffe in diesen Teufelskreis wie Renzis Bankenrettungsfonds „Atlante“, der mit 4,2 Milliarden Euro viel zu klein geriet, erbrachten nur einen temporären Effekt.

Nach allen Kriterien, die schwäbischen Hausmännern lieb und teuer sind, ist Italien heute ein Musterland. Das Defizit liegt bei unter drei Prozent der Wirtschaftsleistung, wobei der Staatshaushalt gar einen Primärüberschuss von fast vier Prozent aufweist. Die Preise sind ultrastabil, Lohnkosten kaum gestiegen, die Wettbewerbsfähigkeit, die Merkel und Schäuble ständig im Mund führen, hat sich für Italien kräftig verbessert. Schließlich fährt man neuerdings einen Exportüberschuss von drei Prozent ein. Renzi und seine Vorgänger haben gespart und reformiert wie die Besessenen, so dass die Staatsausgaben zuletzt um 4,4 Prozent gesunken sind. Trotzdem dümpelt die offizielle Wachstumsrate des BIPs unter der Ein-Prozent-Marke dahin, woran sich im kommenden Jahr kaum etwas ändern dürfte. Wachstum durch Austerität, das bleibt eine fatale Illusion. Schlimmer noch, ein Denkfehler, der durch ständiges Wiederholen nur krasser wird.

Renzi war einer der wenigen Politiker Italiens, die öffentlich nicht ins populistische Horn geblasen haben. Er hat weder die EU noch den Euro für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Italiens verantwortlich gemacht. Obwohl er Grund hatte, sich von den Doktrinären in Berlin und Brüssel im Stich gelassen zu fühlen. Ein Gefühl, das viele Italiener heute teilen. Die Rechts- und Linkspopulisten spielen virtuos damit. Dank der neoliberalen Überzeugungstäter, die Europa weiter zugrunde richten, haben sie leichtes Spiel.

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