Was nicht passt, wird passend gemacht

Rente Dank der Finanzkrise und des demographischen Trends macht das Modell „Länger arbeiten, geringere Altersbezüge“ europaweit eine beachtliche Karriere

Ein gemeinsames Rentenalter für die gesamte EU hat sich Kanzlerin Angela Merkel vor kurzem gewünscht. Als hätten sie von diesem Wunsch gewusst, hatten zuvor die dänische, niederländische und spanische Regierung beschlossen, in ihren Ländern das Alter für den Renteneintritt spätestens bis 2020 auf 67 Jahre anzuheben. Andere EU-Staaten, in denen jahrzehntelang ein unterschiedliches Rentenalter für Männer und Frauen galt, folgen dem deutschen Beispiel, die niedrigere Altersgrenze für Frauen (bisher meist 60 Jahre) aufzuheben und dem für Männer geltenden Niveau (65 Jahre) anzugleichen.

Am weitesten treibt derzeit die liberal-konservative Regierung in London den Spaß, plant sie doch ab 2020 das Modell „Rente mit 68“. Das deckt sich mit einer Empfehlung der sogenannten fünf Wirtschaftsweisen in Deutschland, die in ihren jüngsten Expertisen gleichfalls eine Rente mit 68 oder 69 Jahren für angebracht hielten. Noch rigoroser als diese Sachverständigen äußerte sich im Frühjahr die EU-Kommission, als sie eine Rente erst mit 70 oder 71 in Aussicht stellte. Die Rente mit 80 erscheint da nicht mehr weit. Die Anpassung des Rentenalters an die steigende Lebenserwartung sei eben ein permanenter Prozess, wird argumentiert.

Wucht des Weltmarkts

Die britische Regierung hat dem Ganzen im Schulterschluss mit der wachsenden Schar von Anhängern einer Rente mit 67 plus , die Krone aufgesetzt: Seit September 2011 entfällt im Vereinigten Königreich das gesetzliche Rentenalter von 65 Jahren für alle betrieblichen und überbetrieblichen Renten ganz und gar. Niemand kann mehr mit 65 Jahren gegen seinen Willen pensioniert werden. Jede oder jeder darf im Prinzip so lange weiterarbeiten, wie sie oder er will und kann – zumindest bis das gesetzliche Mindestalter für den Bezug der staatlichen Mindestrente erreicht ist, das in der kommenden Dekade auf 68 Jahre steigt.

Das nominelle Rentenalter ist nur ein Kriterium, um die bei Pensionären geltenden Sozialstandards in den jeweiligen EU-Staaten zu beurteilen. Es kommt ebenso darauf an, in welchem Alter die Menschen den Arbeitsmarkt tatsächlich für immer verlassen und ihren Rentenanspruch geltend machen. Hier zeigen sich EU-weit klare Unterschiede – die Luxemburger gehen mit 57 Jahren am frühesten in den Ruhestand, gefolgt von den Franzosen mit 59,5 Jahren (s. Grafik). In Griechenland verlassen die Männer im Schnitt mit 61,9 Jahren den Arbeitsmarkt und damit später als in Deutschland (61,7 Jahre). Den größten zeitlichen Abstand zwischen dem Abschied vom Erwerbsleben und einem mit der Sparpolitik für Frauen und Männer zuletzt auf 65 Jahre erhöhten Renteneinstieg gibt es in Portugal: Männer gehen erst mit 67 Jahren in Rente, Frauen mit 63,6.

Mit der seit 2010 in allen EU-Staaten verfolgten Sparpolitik wurde bei den Rentensystemen Reformen beschleunigt, die bereits begonnen hatten. Ihnen lag die Überzeugung zugrunde, die Altersbezüge – zumal die umlagefinanzierten – würden in Zukunft unbezahlbar sein. Nicht nur wegen der Globalisierung, bei der Sozialstaaten wegen der Wettbewerbsfähigkeit als Klotz am Bein gelten, sondern ebenso wegen der Demografie. Gegen die sind noch weniger Kräuter gewachsen als gegen die Wucht der Weltmarktkonkurrenz.

Das sich daraus ableitende Argumentationsmuster lautet: Da die Gesellschaften in Europa altern und die Älteren immer länger leben (s. Übersicht), werden unweigerlich immer weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner immer länger unterhalten müssen. Allerdings dürften dabei die Rentenbeiträge über magische Schwellen hinaus nicht steigen, lautet die Auffassung ausnahmslos aller EU-Regierungen. Durchaus logisch, da die gleichen Regierungen beschlossen haben: Die Löhne und vor allem die „Lohnnebenkosten“ sollten möglichst wenig, am besten gar nicht steigen – wegen der Wettbewerbsfähigkeit.

Wer nicht umschaltet

Zusammen mit dem Dogma niedriger Einkommen (das Deutschland mittlerweile den größten Niedriglohn-Sektor in Europa beschert) ergibt das ein abenteuerliches Räsonnement, das inzwischen die sozialpolitische Debatte in der EU beherrscht. Kein Wunder, dass seit Ausbruch der Eurokrise mit den Stabilitäts- und Sparauflagen für hochverschuldete Staaten auch Renten gekürzt werden. Egal, ob in Griechenland, Portugal, Irland, Spanien oder in Deutschland – es gibt überall den gleichen Teufelskreis: Wenn die Rentenbeiträge nicht steigen dürfen und de facto auch nicht können, weil Löhne und Gehälter gedrückt werden, müssen die Renten sinken. Daraus folgt weiter: Will man das gesamte Rentensystem bezahlbar halten, muss länger gearbeitet werden für eine später dann freilich geringere Rente – wachsende Altersarmut ist programmiert.

In Deutschland wird der Trend zur längeren Lebensarbeitszeit bei vermindertem Rentenniveau noch um die spezielle Volte ergänzt, das Versicherungssystem auf Teufel komm raus umbauen zu wollen. Aber nicht so, wie es richtig und vernünftig wäre und wie es manche EU-Partner schon vor Jahrzehnten getan haben, indem sie eine steuerfinanzierte Grundrente für alle Bürger einführten. Sondern im Sinne des neoliberalen Dogmas, das „private Vorsorge“ über die „staatliche Zwangsrente“ stellt. Wer nicht beizeiten umschaltet und privat vorsorgt, das heißt, eine Zusatzversicherung abschließt oder in Pensionsfonds einzahlt, der wird finanziell bestraft. Die Altersarmut der Rentner, die während ihres Berufslebens nicht „privat vorsorgen“ konnten – vor allem Geringverdiener – wird in Kauf genommen.

Seit 2008 allerdings hat die Finanzkrise den Glauben an die prinzipielle Überlegenheit der kapitalgedeckten gegenüber der umlagefinanzierten Rente erschüttert. Um der Demografie ein Schnippchen zu schlagen – denn die trifft sie natürlich auch –, haben sich Pensionsfonds weltweit auf die wildesten Spekulationen eingelassen und dabei Milliarden gescheffelt – bis der Finanzkrach kam und die gleichen Fonds die Milliarden wieder verloren. Seither geht es Lohnempfängern und Selbstständigen besonders in den USA, in Großbritannien, in den Niederlanden und Belgien ziemlich dreckig. Denn sie sind für ihre Altersrente zu 50 Prozent oder mehr auf einen Pensionsfonds und dessen Zinserträge beziehungsweise Finanzmarktgewinne angewiesen. Rentenkürzungen von 14 Prozent bis 2015 nicht nur für neue, sondern auch für bereits laufende Renten hat beispielsweise der größte niederländische Pensionsfonds ABP bis Ende 2012 angekündigt. Wer weiß, woraus das Vermögen dieser Kapitalfonds besteht und welche Verluste ihnen noch drohen, der versteht, weshalb die britische oder die niederländische Regierung mit Milliarden und Abermilliarden von öffentlichen Krediten eingesprungen sind, um neben angeschlagenen Banken auch Pensionsfonds vor dem Bankrott zu bewahren.

Eigentlich könnten sich die Deutschen glücklich schätzen, dass sie noch eine umlagefinanzierte gesetzliche Rente als Hauptsäule ihres Systems haben und die Riester-Renten – allen Subventionsmilliarden zum Trotz – marginal geblieben sind. Leider steckt die Politik in einer selbst gestellten Falle. Da sie den Anstieg der Rentenbeiträge unbedingt deckeln will, lässt sich die Altersarmut für eine wachsende Zahl von Ruheständlern auch dann nicht vermeiden, wenn man das Rentenalter noch drastischer (nach britischem oder spanischem Vorbild) anhebt. Man kann natürlich mit allerlei Zuschussrenten herumdoktern, um einer großen Zahl von Rentnern den demütigenden Bittgang zum Sozialamt zu ersparen. Doch gilt auch in der Sozialpolitik: Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut.

Die Rentenpolitik ist keine Spenden-, sondern Verteilungspolitik. Und das klingt in Deutschland immer verdächtig nach Umverteilung, obwohl es in diesem Fall um die Primärverteilung geht. Das bedeutet, da die Produktivität der Arbeitenden von Jahr zu Jahr steigt, kann ein Erwerbstätiger in Zukunft ohne Weiteres einen Rentner mit ernähren oder sogar zwei. Steigt die Produktivität wie bisher, können auch die Rentenbeiträge steigen, ohne dass Arbeitnehmer dadurch ärmer würden – vorausgesetzt, sie sehen sich durch steigende Löhne am Produktivitätsfortschritt beteiligt. Das freilich geht nach neoliberaler Grundüberzeugung zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit. Außerdem gibt es das Dogma, die Vermögens- und Kapitalbesitzer bei der Rentenfinanzierung möglichst aus dem Spiel zu lassen.

Michael Krätke hat zuletzt über David Camerons EU-Politik geschrieben

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