Theresa May hat den inneren Krieg mit den Brexit-Hardlinern fürs Erste überlebt. Nach dem Parteitag der Konservativen wird seit Anfang der Woche wieder in Brüssel verhandelt. Auf beiden Seiten des Kanals verbreiten die diplomatischen Emissäre Optimismus. Dabei sah es vor und während der Parteitage von Labour in Liverpool und der Tories in Birmingham teilweise düster aus. Labour setzt auf rasche Neuwahlen, ein Gefallen, den die Regierung ihrem Erzfeind nicht so bald erweisen wird. Premierministerin May verfolgt weiter ihren Chequers-Plan, den die Brexit-Hardliner in London ebenso ablehnen wie die EU-Kommissare in Brüssel. So ist ein Scheitern der Sondierungen weiterhin möglich.
Die Labour-Führung zog es auf ihrer Jahreskonferenz vor, viel über die schöne neue Welt zu reden, die komme, sollte Jeremy Corbyn in Downing Street Nr. 10 einziehen. Man schwelgte in Zukunft und lobte die Pläne eines künftigen Labour-Kabinetts. Vieles davon ist richtig und sinnvoll und wird – wie etwa eine Renationalisierung der Eisenbahnen – von einer breiten Mehrheit im Land getragen. Manches davon ist freilich schon von Corbyn-Vorgängern wie Gordon Brown und Ed Miliband auf den Weg gebracht worden. Schwerer wiegt, dass Corbyn und die Seinen von ihrem Regierungsprogramm reden und vom Brexit schweigen. Wer wie sie auf Neuwahlen setzt, glaubt fest daran, die Tories diesmal schlagen zu können. Nach der Regierungsübernahme werde man weitersehen, so der Tenor, auch beim Brexit.
Viele Delegierte in Liverpool sahen das anders. Deren Gemütslage wurde deutlich, als Schatten-Brexit-Minister Keir Starmer sprach und die wohlbekannte Position wiederholte: Labour wird einem Austrittsvertrag mit der EU im Unterhaus nur zustimmen, wenn der zu keinen substanziellen Einbußen bei Löhnen, der Beschäftigung, den Investitionen und der Finanzierung öffentlicher Dienste im Königreich führt. Sollte das Gegenteil der Fall, also mit einem Verlust von Wachstum und Wohlstand zu rechnen sein, werde Labour nicht mitspielen – und damit wohl die Regierung stürzen. Sollte das misslingen, unterstütze die Partei ein zweites Referendum – über den Ausstieg und seine Modalitäten. Keir Starmer bewies Mut, als er von seinem Manuskript abwich und ergänzte: Man werde nichts ausschließen, auch über einen Verbleib in der EU könne in einer zweiten Volksbefragung abgestimmt werden. Donnernder Applaus, minutenlang Standing Ovations. Starmer hatte den Gesandten der Parteibasis offenbar aus der Seele gesprochen. Auch wenn das Parteichef Corbyn und seinem engeren Kreis nicht gefallen mag: Die derzeit über 550.000 Parteimitglieder sind zu gut 90 Prozent Remainer. Sie würden dem Brexit-Schlamassel am liebsten entgehen und wollen ihr Land weiter in der Zollunion und im Binnenmarkt sehen. Auch unter den Labour-Anhängern unterscheidet sich das Stimmungsbild kaum. Schließlich teilt eine Mehrheit der britischen Wähler zwischenzeitlich die Brexit-Skepsis der Labouristen.
Was das Herz begehrt
Beim Treffen der Tories in Birmingham brachten sich potenzielle Nachfolger von Theresa May in Position, über deren Ablösung mal mehr, mal weniger heftig spekuliert wird. Ex-Außenminister Boris Johnson suchte die Konfrontation und kanzelte in einer viel bejubelten Rede Mays Chequers-Plan erneut als „Blödsinn“ ab. Falls er mit seiner Attacke nach dem Posten des Regierungschefs greifen wollte, griff er zu kurz. Inhaltlich hatte Johnson außer Redensarten nicht viel zu bieten, vor allem keine Alternative zu Mays Verhandlungslinie. Die Betonfraktion der EU-Feinde, angeführt von Johnson, Agrarminister Michael Gove und dem Unterhausabgeordneten Jacob Rees-Mogg wütet gegen jeden Kompromiss mit Brüssel. Sie will den ganz harten Brexit, am liebsten ohne Abkommen – und das schnell. Auch wenn nach Auffassung des elitären Zirkels um Johnson die Regierung May das entstandene Chaos verantwortet – die Schuld daran wird der EU angelastet. Erst wenn man die hinter sich gelassen habe, werde der Weg frei sein, um Großbritannien als riesige Steueroase und als Offshore-Paradies für Konzerne und Vermögensbesitzer direkt vor der europäischen Küste anzupreisen – mit Niedriglöhnen und prekärer Arbeit, mit Magerrenten und einem privatisierten Gesundheitssystem. Kurz, mit allem, was das Herz des gemeinen Neoliberalen begehrt.
Theresa May hat in Birmingham wider Erwarten eine souveräne Rede gehalten und damit ihre Rivalen fürs Erste zum Stillhalten gezwungen. Ohne ins Detail zu gehen, hat sie ihren Verhandlungskurs bekräftigt. Notfalls könne man auch ohne Abkommen austreten, obwohl dann ein schlechtes Verhandlungsergebnis vorläge. Wichtiger war ihr die Ankündigung, nach zehn Jahren härtester Sparpolitik müsse es mit der Austerität nun vorbei sein. Da spürt jemand die Labour-Opposition im Nacken, die erfasst hat, wie das Land gestimmt ist. Von einem zweiten Referendum will May nichts wissen, ihr reicht die Abstimmung im Parlament, deren Ausgang ist ungewiss genug.
Die Furcht vor dem Chaos nach einem Ausstieg ohne Abkommen ist erkennbar gewachsen. Befeuert durch die Regierung, die seit Wochen die Bürger vor den möglichen Folgen warnt und damit ein „No-Deal-Szenario“ als Option nachdrücklich in Erwägung zieht. Es sei notwendig, sich auf den Ernstfall vorzubereiten und Vorräte anzulegen. Lebensmittel, Medikamente und Ersatzteile sollten für mindestens einen Monat gehortet werden. Von einem Einsatz der Polizei und Armee ist die Rede. Supermärkte, Hospitäler und Fabriken beginnen sich auf den Zusammenbruch grenzüberschreitender Lieferketten einzustellen. Im Süden bereitet man sich auf die Sperrung der wichtigsten Autobahnen vor, schließlich wird Platz für Zehntausende von Lkw gebraucht, die sich an der harten Grenze zur EU stauen dürften.
Was die Angst diktiert
Zugleich wächst die Besorgnis, dass die Sache auch auf längere Sicht übel ausgeht. Seit im Sommer 2016, nach dem Brexit-Votum, entgegen allen Erwartungen ein Konsumboom auf Pump begann und die britische Wirtschaft zulegte, herrschte Zweckoptimismus. Nun zeigen jüngste Prognosen, dass sich das Wachstum auf der Insel deutlich verlangsamt, zudem herrscht Wohnungsnot. Dazu sind die britischen Haushalte heute genauso hoch verschuldet wie vor der Finanzkrise von 2008. Die Inflation frisst die bescheidenen Lohnzuwächse auf. Ein Einbruch des Handels mit dem Kontinent würde dem Land im Eiltempo zu einer Rezession verhelfen, sodass selbst Brexit-Star Boris Johnson auf die Idee kommt, den Brexit-Termin vielleicht doch um ein paar Monate zu verschieben. Ratlos, zerstritten und erschöpft, wie sie sind, halten das viele Tories für eine gute Idee. Nicht so Theresa May, ganz und gar nicht die EU-Zentrale in Brüssel. Dort weiß man: Werden den Briten in Sachen Zollunion und Binnenmarkt Sonderrechte eingeräumt, würde das die EU als Rechtsgemeinschaft in Frage stellen und existenziell erschüttern.
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verbreitet trotzdem Optimismus: In wenigen Wochen, vor dem EU-Sondergipfel im November, könne ein Abkommen unter Dach und Fach sein. Theresa May tutet ins gleiche Horn. Jetzt sei die entscheidende Phase erreicht, um doch noch alles rechtzeitig abschließen zu können. In den Londoner Medien kursiert das Gerücht, sie werde sich zu weiteren Konzessionen bequemen, um etwa die Frage einer EU-Grenze in Irland zu klären. Sie könnte gar eine Zollgrenze in der Irischen See, zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs, akzeptieren, bisher eine rote Linie. An der Grenzfrage schien der Austrittsvertrag samt einer daran gebundenen Übergangsperiode bis Ende 2020 jüngst noch zu scheitern. Wäre sie geklärt, ließe sich über den Rest leicht ein Konsens finden. Zumal der Austrittsvertrag nur eine allgemeine Erklärung über die Art der künftigen Wirtschaftsbeziehungen enthalten muss, die eigentlichen Verhandlungen darüber würden erst nach der Ratifizierung eines Brexit-Abkommens beginnen.
Für die Regierung May mit ihrer fragilen Mehrheit wäre ein Deal in der Grenzfrage jedoch riskant, da die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) den torpedieren könnte. Aber selbst die DUP-Vorsitzende Arlene Foster spricht sich inzwischen gegen einen Austritt ohne Abkommen aus und mahnt die Regierung, Vorsicht walten zu lassen.
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