Unabhängige Außenpolitik der Türkei: Heute hier, morgen dort
Türkei Durch den Westen erpressbar, das ist die Türkei nur in Maßen. Wer auch immer in Ankara regieren wird – das Land wird kein Verlierer der multipolaren Neuordnung der Welt sein
Nicht nur Baschar al-Assad und Wladimir Putin treffen sich gern mit dem türkischen Präsidenten
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Die türkische Außenpolitik wird sich nicht grundlegend ändern, vor allem dann nicht, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Recep Tayyip Erdoğan die Stichwahl gewinnt. Dessen Erfolg überrascht hiesige Beobachter, sind doch die demokratischen und rechtsstaatlichen Defizite in der Türkei kaum zu übersehen. Dementsprechend sollten die Türken ein ureigenes Interesse haben, ihren Autokraten endlich abzuwählen, so die vorherrschende Meinung.
Doch sind die Prioritäten der Erdoğan-Wähler offenbar andere. Die Deutschtürken etwa wählen ihn als Reaktion auf anti-muslimische Ressentiments und fehlende Wertschätzung hierzulande. Die Anhänger seiner Regierungspartei AKP sind, vereinfacht gesagt, vor allem jene a
lem jene anatolischen Mittelschichten, die seit den 1990er Jahren wirtschaftlich unaufhörlich an Einfluss gewonnen haben. Sie stehen in Konkurrenz zu den traditionellen, eher westlich orientierten Machteliten, besonders in Istanbul. In der Regel folgen die religiösen, konservativen, teilweise ultranationalistischen „Anatolier“ anderen, nicht notwendigerweise westlich orientierten Interessen und Wertvorstellungen. Diese in Handel, Industrie und Baugewerbe gut aufgestellten Mittelschichten sind geschäftlich überaus erfolgreich in Zentralasien, auch in Russland und China, in der islamischen Welt bis nach Indonesien.Von Block zu Block pendelnDas sollte berücksichtigen, wer türkische (Außen-)Politik einzuordnen sucht. Wer sich über Erdoğan empört oder auch ihn sachlich geboten kritisiert, sollte im Auge behalten, dass der heutige Beinahe-Alleinherrscher auch das „Produkt“ einer verfehlten EU-Politik ist. In der ersten Phase von Erdoğans Regentschaft, in den 2000er Jahren, war seine AKP erkennbar zu Kompromissen und Reformen bereit, um den Beitrittskriterien der Europäischen Union zu genügen. Bis Erdoğan schließlich erkannte, erkennen musste, dass vor allem Deutschland und Frankreich keinerlei Interesse hatten, die islamisch geprägte Türkei in ihren christlichen Reihen aufzunehmen.Es folgten der „mentale Bruch“ mit Europa und Erdoğans Neupositionierung der Türkei als aufstrebende Mittelmacht an der geografischen Bruchstelle zwischen Ost und West. Begleitet von zahlreichen strategischen Fehlern, insbesondere einer bisweilen aggressiv forcierten „Re-Osmanisierung“, der etwa Griechenland wie auch die arabischen Staaten vehement entgegentraten, hat Erdoğan im Laufe der Zeit dazugelernt. Mittlerweile ist sein politisches „Geschäftsmodell“ durchaus erfolgreich. Es besteht im Wesentlichen darin, in der Außenpolitik ausschließlich türkischen Eigeninteressen Rechnung zu tragen.Dieser Pragmatismus – gleichermaßen autoritär und oft genug skrupellos – erlaubt maximale Pendelbewegungen, die sich in einer zunehmend multipolaren Welt als deutlich förderlicher erweisen als etwa eine irrlichternde „feministische Außenpolitik“. Politische wie mediale Akteure in Berlin, die sich auf „Werte“ berufen und in der Regel Gefolgschaft gegenüber Washington meinen, meist ohne Gespür für geostrategische Zusammenhänge und tektonische Verschiebungen, sind beinahe zwangsläufig Gefangene ihrer eigenen Rhetorik. Erdoğans Weg ist ein anderer: Selbstverständlich bleibt die Türkei Mitglied der NATO, zugleich aber kauft Ankara seit Jahren russische Waffensysteme ein und bleibt ein enger politischer wie wirtschaftlicher Partner Moskaus. Entsprechend beteiligt sich die Türkei als einziger NATO-Staat nicht an den Sanktionen gegen Russland, ist aber gleichzeitig um gute Beziehungen zu Kiew bemüht, verkauft dorthin auch Waffen. Neben den Vereinten Nationen ist die türkische Regierung der wichtigste Mittler zwischen den beiden Kriegsparteien, etwa mit Blick auf die Getreideexporte aus der Ukraine.Besatzer in NordsyrienDurch den Westen erpressbar ist Ankara nur in Maßen. Für die Interessen der NATO und somit der USA ist die Türkei aufgrund ihrer Lage unverzichtbar. Auch die EU hat ein vitales Interesse, sich mit jeder türkischen Regierung ins Benehmen zu setzen – allen voran wegen der Millionen zählenden eigenen Bürger türkischer Herkunft und nicht zuletzt der Flüchtlingsfrage. 3,6 Millionen Syrer hat die Türkei aufgenommen. Und ganz gleich, wer die Wahlen gewinnt: Ihnen droht nach dem Votum die Abschiebung nach Syrien, jedenfalls zum größten Teil. Kemal Kılıçdaroğlu, Erdoğans Konkurrent in der Stichwahl, hat das ebenso angekündigt wie der bisherige Präsident. Das macht die Flüchtlinge zu einer potenziellen „demografischen Waffe“ – ließe Ankara sie in Richtung Westen ziehen, hätte die EU ein unlösbares Problem. Auch aus diesem Grund bemühen sich Brüssel und Berlin seit Jahren um gute Beziehungen zur türkischen Regierung.Kılıçdaroğlu und seine Partei CHP werden in Deutschland gern als sozialdemokratisch missverstanden. Sie sind aber nicht weniger nationalistisch als Erdoğan und die AKP, nur eher säkular ausgerichtet. Geht es um die Entrechtung und Marginalisierung der Kurden, sind sich die politischen Lager weitgehend einig. Jedes Zugeständnis an ethnische Minderheiten schwäche die türkische Republik und somit den Zentralstaat. Auch militärisch dürfte Kılıçdaroğlu jederzeit gegen die Kurden in Nordsyrien und im Nordirak vorgehen. Zu glauben, Kılıçdaroğlu würde sich dem Westen zuwenden und der bisherigen Pendelpolitik entsagen, ist pures Wunschdenken. Die Türkei richtet sich – wie der Globale Süden insgesamt – zwischen den Blöcken ein und ergreift nicht einseitig Partei für die eine oder die andere Seite: hier der Westen, dort das sich abzeichnenden Tandem China und Russland. Darin dürfte in der türkischen Politik über alles Lagerdenken hinweg mittlerweile Konsens bestehen.Die größte Herausforderung Ankaras nach den Wahlen ist ohne Zweifel das Syrien-Dossier. Nachdem der dortige Machthaber Baschar al-Assad wieder in die Arabische Liga aufgenommen wurde, ist die bisherige türkische Strategie in Nordsyrien wohl als gescheitert anzusehen, die Kurden dort mithilfe radikaler Dschihadisten zu bekämpfen, zu terrorisieren und politisch kleinzuhalten. Erdoğan hat mit Sicherheit keine Probleme damit, seinen vormaligen „Bruder“ Assad, der er bis Kriegsausbruch im März 2011 war, erneut in die Arme zu schließen. Nicht anders als die arabischen Potentaten. Doch wie geht es weiter mit der türkischen Besatzung in Nordsyrien? Diese für Assad zentrale Frage wird Ankara früher oder später beantworten müssen. Sie dürfte Teil eines Deals werden, um syrische Flüchtlinge wieder in ihre Heimat „zurückführen“ zu können.Die türkische Außenpolitik wird auch weiterhin pendeln, sich auf die neuen Allianzen einstellen, wie sie im Zuge des Ukraine-Krieges allmählich Gestalt annehmen. Hier der Westen, der Russland und zunehmend auch China in die Knie zu zwingen sucht. Dort der Globale Süden, der einen Mittelweg zwischen den Blöcken anstrebt. Wenig spricht dafür, dass die Türkei zu den Verlierern einer künftigen multipolaren Weltordnung gehört.Placeholder authorbio-1