Demaskiert zur Kenntlichkeit

Wahl Der erneute Erfolg der AfD hat das politische System erschüttert. Aber das Ergebnis im Nordosten ist nicht überraschend
Ausgabe 36/2016

Es ist nicht der erste Rekord für die Alternative für Deutschland in Mecklenburg-Vorpommern geworden, immerhin. Und auch der Schock über das hohe Wahlergebnis sitzt dieses Mal nicht ganz so tief wie in Sachsen-Anhalt im März, als die AfD sogar 24,2 Prozent der Stimmen errang. Schließlich war das Ergebnis im Nordosten doch recht präzise prognostiziert worden. Das routinierte Entsetzen über die 21 Prozent der Stimmen für die AfD, die aufkommende Debatte, ob Kanzlerin Angela Merkel noch die Richtige an der Spitze der Union sei, die heftige Kritik von Horst Seehofer, die Erleichterung bei der SPD, die Ratlosigkeit bei der Linken, selbst die Trauer bei den Bündnisgrünen – all das war dann vor allem auch: routiniert.

Und doch ist die Wahl in Mecklenburg-Vorpommern ein massiver Warnschuss für die gesamte Republik, deren demokratische Grundfesten schon stabiler waren. Allerdings gilt es, zugleich auch die besonderen Umstände in Mecklenburg-Vorpommern zu berücksichtigen. Schließlich ist die hohe Zustimmung zur AfD nicht einfach nur ein Zeichen von Unmut und Protest gegen die sozialen, die regionalen oder die politischen Verhältnisse. Vielmehr wird hier etwas zur Kenntlichkeit demaskiert, was nach Jahren der NPD-Präsenz in dieser Region so unerwartet nicht gewesen sein kann. Insbesondere die Ergebnisse jenseits der urbanen Regionen ganz im Osten des Bindestrichlandes zeigen eine Kultur der Menschen- und Fremdenfeindlichkeit, einen tiefsitzenden Rassismus in Teilen der Bevölkerung. Das Ressentiment hat sich an der Wahlurne Luft verschafft. Auf zusammen über 50 Prozent der Stimmen kommen in manchen Kommunen auf der Ferieninsel Usedom die beiden Rechtsaußenparteien AfD und NPD. Beide waren schon im Wahlkampf neben mancher Spiegelfechterei auch durch gemeinsame Demonstrationsauftritte oder gegenseitige Unterstützungsbekundungen aufgefallen. Auf 35,3 Prozent der Erststimmen kommt beispielsweise ein AfD-Direktkandidat, der durch das Tragen von Kleidung der bei Rechtsextremen beliebten Marke „Thor Steinar“, durch den Kampf gegen das Recht auf Abtreibung, die Betreuung von rechtsextremen Studenten, Expertisen für die NPD und große Nähe zur rechtsextremen und antisemitischen Reichsbürgerbewegung aufgefallen ist.

Wie aber lässt sich ein solcher Erfolg erklären? Mit der „Flüchtlingskrise“, mit der Enttäuschung über die Politik von Angela Merkel, mit den wenigen tausend Geflüchteten, die tatsächlich in Mecklenburg-Vorpommern in den vergangenen zwölf Monaten aufgenommen worden sind? Nun, zumindest ist dies die viel bemühte Erzählung dieser Tage. Sie hat zwar eine gewisse Berechtigung, hat aber mit den realen Verhältnissen in Mecklenburg-Vorpommern nur wenig zu tun. Schließlich – und deshalb muss diese Wahl ebenso ernst genommen werden wie die in Sachsen-Anhalt – stellt die AfD seit Monaten die Forderung, die Rechte von Menschen nur wegen ihrer sexuellen Orientierung, ihrer religiösen Überzeugung oder ihrer Zugehörigkeit zu einer Ethnie zu beschneiden, beispielsweise bei ihrem Recht auf Asyl. Sie appelliert damit, das hat die Wahl am Sonntag, aber auch die in Sachsen-Anhalt gezeigt, an ein tiefsitzendes Ressentiment gegenüber dem Anderen, dem Fremden, dem Nicht-Volksdeutschen – und zwar leider relativ erfolgreich.

Last der Vergangenheit

Es handelt sich dabei um eine historische Last, die – so die Historiker Jan C. Behrends, Dennis Kuck und Patrice G. Poutrus in einer bereits 2003 erschienenen Studie – damit erklärt werden kann, dass es im Osten Deutschlands zwar einen staatlich verordneten Antifaschismus, aber eben keine gründliche Absetzbewegung der DDR-Bevölkerung von rassistischen, nationalistischen und antibolschewistischen Stereotypen der NS-Propaganda gegeben hat. Die DDR sei zudem eine durchgehende, ethnisch konstruierte Nation gewesen: „Eine nie diskursiv herausgeforderte deutsche Nation, die auch über das Ende der DDR hinaus für viele DDR-Bürger ein positiver Identifikations- und Orientierungspunkt – etwas, worauf man stolz war – blieb.“ Nicht zuletzt konstatierten die Autoren des heftig diskutierten Thesenpapiers eine gefühlte Konkurrenz in der Mangelgesellschaft mit „Fremden“, vor allem mit den angeblich besser ausgestatteten, vermeintlich staatlich protegierten „Gastarbeitern“ aus den sozialistischen Bruderländern um die wenigen verfügbaren Konsumgüter, die als historische Hypothek, Stand 2003, in den Neuen Bundesländern fortwirken würde.

Es wäre ein leichtes, diese Thesen auf das Jahr 2016 anzuwenden und die Kontinuität der Vorstellung eines geeinten, vom Fremden freien Volkskörpers, von der deutschen Kulturnation in Partei und Wählerschaft der AfD wiederzufinden und die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern in großen Teilen damit zu unfähigen Demokraten zu erklären. Doch so einfach ist es nicht. Schließlich, dies zeigen die Nachwahlbefragungen deutlich, gibt es in Mecklenburg-Vorpommern einen erklärungsbedürftigen Unterschied in der Altersstruktur der dortigen AfD-Wählerschaft. Deutlich unterproportional jedenfalls ist die Zustimmung zur AfD bei den Erstwählern (13 Prozent), den 18- bis 24-jährigen jährigen Jungwählern (15 Prozent) sowie den Wählerinnen und Wählern jenseits der 70 (14 Prozent). Überproportional erfolgreich war die AfD hingegen in der Altersgruppe der 35- bis 44-jährigen Männer mit knapp 30 Prozent, sowie, knapp dahinter liegend, der 45- bis 59-jährigen Männer. So alt sind diejenigen inzwischen geworden, die 1992 in Rostock-Lichtenhagen ihrem Hass auf Ausländer freien Lauf ließen, jene, die der Autor Clemens Meyer für das Leipzig der 90er Jahre ebenso porträtiert hat, wie Peter Richter sie für das Dresden der chaotischen Jahre 1989/90 jüngst beschrieb. Jene Neonazis also, die in den 90er Jahren in manchen Gebieten Ostdeutschlands die hegemoniale rechte Alltagskultur begründet und vielfach auch gewaltsam durchgesetzt haben. Jene Kohorten der um 1970 geborenen Ostdeutschen, die, so die wissenschaftlichen Befunde, dem antifaschistischen Gründungsmythos der DDR besonders stark abgeschworen haben, die, wie Konrad Weiß es bereits 1989 formulierte, den „braunen Stafettenstab“ übernommen haben.

Anfälliges Parteiensystem

Es fällt nicht schwer, anhand der Ausbreitung und Verwurzelung der NPD in manchen Landstrichen die Überreste und in einigen Regionen die Dominanz dieser rechten Haltung zu entdecken. Sie konnte sich im Nordosten auch deshalb so wirksam etablieren, weil es dort eine große Strukturschwäche im ländlichen Raum gibt, eine starke Verschiebung in der Demografie hin zu einer überalterten Bevölkerung und nicht zuletzt ein anfälliges Parteiensystem. Mecklenburg-Vorpommern ist, anders als Sachsen mit Kurt Biedenkopf, Thüringen mit Bernhard Vogel und Brandenburg mit Manfred Stolpe, nie von einer starken Führungspersönlichkeit so weit geformt worden, dass das ganze Parteiensystem auf Jahrzehnte wie eingefroren schien. Während Sachsen und Thüringen als Musterländer der Transformation galten, trug Mecklenburg-Vorpommern – bisweilen im Wechsel mit Sachsen-Anhalt – die wirtschaftliche wie auch gesellschaftliche rote Laterne des deutsch-deutschen Einheitsprozesses. Gleichwohl zeigte das Aufkommen der Pegida-Bewegung in Dresden, dass auch wirtschaftlich prosperierende Regionen anfällig sind für ein Erstarken in der von Werner Patzelt so sehnlich herbeiphilosophierten „Repräsentationslücke“ rechts der CDU.

Und doch, bei aller Relativierung, spielt der Begriff der Transformation eine wichtige Rolle – nicht in dem Sinne, dass ostdeutsche Transformationserfahrungen und die damit verbundenen Verluste an Status, Einkommen oder beruflicher Perspektive den Erfolg von Pegida und die AfD erklären. Dafür war die Transformation von vielen Ostdeutschen nicht nur gewollt, sondern besonders heftig in Absetzung vom Alten vorangetrieben worden, dafür sind die regionalen Unterschiede innerhalb Ostdeutschlands zu augenfällig. Dennoch ist die ostdeutsche Gesellschaft – anders als diejenige in der alten Bundesrepublik – noch immer eine Transformationsgesellschaft, in dem Sinne, dass diese auf der Suche nach sich selbst ist. Das verbindet sie übrigens mit den Nachbarländern Polen und Ungarn. Wie dort ist der historische Suchprozess vergleichbar mit Tiefenbohrungen in der eigenen Geschichte. Gleichzeitig standen dabei Anleihen an bundesrepublikanischen Fantasien, nationale Wiederaufrichtung und sozialistischer Romantik nebeneinander, was die wandelnden Erfolge von Union, DVU/NPD und Linkspartei im Osten mit erklärt. Und wie in Ungarn und Polen, ist dabei am Ende eine gefährliche, national aufgeladene Mischung entstanden, in der vermeintlich Linke, einige ehemalige Bürgerrechtler, stramme Konservative und radikale Christen plötzlich an einem Strang ziehen, während aus der alten Bundesrepublik mit dem dortigen Erfolg der AfD eine Entwicklung dazukommt, die vor allem im westeuropäischen Ausland als eine „Normalisierung“ begriffen wird.

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Noch wählen, und dies kann in aufgewühlten, beschleunigten, von Angst und Misstrauen geprägten Zeiten als Hoffnungszeichen interpretiert werden, auch in Mecklenburg-Vorpommern 75 Prozent der zur Wahl gehenden Menschen die Parteien des demokratischen Spektrums. Aber der Blick in manche Region, in manchen Wahlkreis zeigt, dass sich jenseits von „Sorgen“ und „Ängsten“ eine gefährliche, weil fundierte, personell unterfütterte sowie generationsübergreifende, zugleich längst nicht abgeschlossene Entwicklung beobachten lässt, die schon heute ganze Kommunen auch politisch in die Hände der radikalen Rechten abrutschen lässt. Diesem Prozess, dem Bohren dicker Bretter gleich, beständig Einhalt zu gebieten, statt routiniert weiter politics as usual zu betreiben, wird nicht einfach. Es ist aber im Falle der AfD tatsächlich: alternativlos.

Michael Lühmann arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung und ist auf die AfD spezialisiert

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