Die Kräfte der Gegenreform sind angetreten

Regression Die AfD ist mehr als eine Sammlung eurokritischer Stimmen mit rechtspopulistischen Versatzstücken – sie ist der Gegenentwurf zur Liberalisierung der Bundesrepublik
Familie in Ostpreußen, 1937 (deutlich besser als die von der AfD geforderte Drei-Kind-Normalfamilie: neun Kinder)
Familie in Ostpreußen, 1937 (deutlich besser als die von der AfD geforderte Drei-Kind-Normalfamilie: neun Kinder)

Foto: Schöning/ imago

Genderei. Ein Wort der AfD-Spitzenfrau Beatrix von Storch, welches in Abwandlungen durch die Wahlprogramme der AfD geistert, ist wohl der deutlichste Ausdruck einer Ablehnung des Bemühens um Liberalisierung und Anerkennung von Lebens- und Selbstentwürfen, welche der AfD suspekt ist. Doch damit bei weitem nicht genug. Links-grüner Meinungsmainstream, das Recht auf Abtreibung, Patchwork-Familien, die Gleichstellung von Mann und Frau, die Gleichstellung von Lebensentwürfen, die Akzeptanz der Homo-Ehe, ein aufgeklärtes Geschichtsbild, der Ausbau der außerfamiliären Kinderbetreuung, die Säkularisierung der Gesellschaft, die europäische Integration, die Ökologisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Es gibt kaum ein Feld erreichter Liberalisierung der Bundesrepublik seit den sechziger bzw. siebziger Jahren, welches die AfD nicht gern wieder zurücknehmen würde um die Bundesrepublik wieder zurückzuversetzen in jene Zeiten, welche man nach Adenauer überwunden glaubte. Eine Rückkehr zu Ludwig Erhardt ist dabei nur die wirtschaftspolitische Speerspitze, die in der öffentlichen Wahrnehmung verdeckt, dass die konservative Gegenreform à la AfD weit darüber hinaus zielt.

Unproduktive Ehen und der Schutz des Lebens

Drei-Kind-„Normalfamilie“, häusliche Erziehung und ein Verbot von Abtreibung sind dabei die Kernpunkte eines AfD-Konservatismus, der vor allem in evangelikalen und streng katholischen Zusammenhängen noch mehrheitsfähig ist und über die neue Partei rechts der Union wieder in die Politik strömt. Dabei geht es aber nicht allein um die Rückabwicklung mancher nachvollzogener Liberalisierung der Union der vergangenen Jahre. Sondern um die Rückabwicklung dessen, was seit den sechziger, vor allem aber seit den siebziger Jahren immer weiter in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist.

So sinnvoll ein Überdenken des Ehegattensplitting sein mag, geht es der AfD dabei eben nicht um die Anerkennung unterschiedlichster Lebensentwürfe, sondern um eine Rückkehr zur klassischen, mindestens drei Kinder hervorbringenden Ehe, die dann in klassischer Arbeitsteilung von männlichem Alleinverdiener und zu Hause erziehender Mutter ihre ideale Ausformung erhält. Statt eines Nachdenkens über die Grenzen von Pränataldiagnostik und designten Babys geht es der AfD schlichtweg um die Rückabwicklung des mühsam erkämpften Selbstbestimmungsrechts von Frauen. Der radikale Lebensschutz in Verbindung mit manch völkischem Argument – etwa der Erhalt des deutschen Volkes, wie er im sächsischen Wahlkampf thematisiert wurde – feiert in der sogenannten Alternative wieder fröhliche Urstände.

Wider die links-grüne Öko-Meinungsdiktatur

Gleiches gilt auf dem Feld der Umweltpolitik und der europäischen Integration. Auch hier ist die „Alternative“ vor allem eine romantische Rückbesinnung auf Nationalstaat, D-Mark und Grundgesetz in Verbindung mit dem gesamten Arsenal der Klimaskepsis. Wenn die AfD über Umwelt und Natur spricht, wie etwa in Thüringen, dann meint sie damit – etwa auch in Anschluss an Oskar Lafontaine – Landschaftsschutz. Also die Verhinderung von Windkrafträdern in der deutsche Kulturlandschaft. Wenn die AfD von Vielfalt spricht, dann meint sie nicht europäische Gesellschaft, sondern nationale Gemeinschaft. Wenn die AfD von Meinungsfreiheit spricht, dann zielt sie auf den vermeintlichen links-grünen Konsens, der es nicht erlaube, einfach mal sagen zu können, was ist.

Deshalb ist es nur konsequent, dass die AfD die sogenannte "Sprachhygiene" der "veröffentlichten Meinung" anprangert, dass sie Gender-Mainstreaming ablehnt und dafür ausspricht, was das Volk denke. Deshalb benutzt die AfD in ihren Wahlprogrammen das Wort Asylant. Deshalb lehnt sie "Genderei" ab und möchte Kinder in der häuslichen Erziehung vor der "Hypersexualisierung" schützen, vor allem dann, wenn unter Sexualkundeunterricht die Lehre vom Vorhandensein sexueller Vielfalt meint. Dass sie trotz allem manche Errungenschaft der DDR in den ostdeutschen Wahlkämpfen lobt, ist dabei nur noch stimmenmaximierender Opportunismus.

Die Leiden an der Moderne

Mit der Umkehrung der Liberalisierungen ist die AfD dabei weitem kein neues Phänomen. Erst im Nachgang zu 1968 setzte das ein, was man unter konservativer Tendenzwende verhandelte in deren Nachgang die Union erst an Mitgliedschaften und dann an Wählerstimmen wieder zulegte. Erst im Nachgang der 1978er, von taz, tunix und Gründungsgrünen setzte Mitte der Achtziger, wenn schon nicht von Seiten der Politik, so doch innerhalb der nachwachsenden Generationen eine geistig-moralische Wende ein. Und nun, im Nachgang des grünen Höhenflugs, von dem erst die besonders grünenskeptischen Piraten und nun die AfD profitieren, kommt es zu einer elektoralen Bestätigung eines konservativen backlash à la Beatrix von Storch und Alexander Gauland.

Und damit ist man dann wieder beim Begriff der "Genderei". Kaum etwas überfordert die neuen konservativen Kulturkritiker mehr als die multiplen Möglichkeiten von Lebens- und Selbstentwürfen, bis hin zur Infragestellung von Geschlechterrollen und -normen, ja der Eindeutigkeit von Geschlecht an sich. Dass die Moderne ihre gesetzten Prämissen von Fortschritt und Wachstum in den siebziger und achtziger Jahren reflexiv hinterfragte, brachte manchen Konservativen zu den Grünen, manch anderen festigte es noch mehr im Unionslager. Dass nun aber die zweite Moderne nicht nur ihre Prämissen zur Disposition stellt, sondern jeden Einzelnen in etwas vermeintlich so unumstößlichem wie dem eigenen Geschlecht hinterfragt, ist den Kulturkritikern in der AfD der entscheidende Schritt zu weit.

Kurzum, die Freiheit, welche die selbsternannte Freiheitspartei meint, dampft die Multioptionengesellschaft wieder ein auf das Moral- und Familienmaß der Adenauer-Ära. Dass solche Forderungen zweistellige Bestätigung finden ist eine Herausforderung für eine Gesellschaft, die ihre Liberalität über viele Dekaden erkämpfen musste. Denn eine Partei, die einen solchen grundlegenden Wertekonflikt vor sich her trägt, dürfte doch nicht so schnell wieder verschwinden, wie manch monothematische Protestformationen vergangener Jahre.

Michael Lühmann, geboren 1980 in Leipzig, Politikwissenschaftler und Historiker, lebt und arbeitet in Göttingen

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