Das geheime Vokabular

KONSPIRATIVES KAUDERWELSCH Das Wörterbuch der Stasi, seine Begriffsdefinitionen und Decknamen für die inoffiziellen Mitarbeiter

Vor 50 Jahren beschloss die Volkskammer der DDR, ein Staatssekretariat für Staatssicherheit einzurichten. Seine Aufgabe: die umfassende Beobachtung der Gesellschaft. Zehntausende von hauptamtlichen und informellen Mitarbeitern spähten das Volk aus, hörten Telefongespräche ab und scheuten sich nicht, Geruchs- proben gestohlener Kleidungsstücke zu archivieren, um bei einer möglichen Fahndung Hunde gezielt einsetzen zu können.

Zu den Hinterlassenschaften des MfS gehören auch seine Sprachregelungen und Begriffsdefinitionen für den internen Dienstgebrauch. Zusammengefasst im »Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit«, zeigt sich der Geheimdienstjargon der Stasi als ein Lexikon des Schreckens und der behördlichen Trivialitäten: von A wie »Abschöpfung« (der Informanten) über Bezeichnungen wie »Feind«, »Gesellschaftsgefährlichkeit«, Klassenhass« bis Z wie »Zersetzung« (des politischen Gegners).

Das ABC der Stasi ging zurück auf die zentrale Ausbildungsstätte des MfS, der »Juristischen Hochschule« in Potsdam-Eiche. 1970 erstmals erschienen, wurde das Wörterbuch zuletzt 1985 in dritter Auflage veröffentlicht. Persönlich angeregt hatte das Werk Stasi-Chef Erich Mielke - als ein »wertvolles Hilfsmittel mit maximaler Kraft am Feind zu arbeiten«. Daneben lieferte es Kommentare und Interpretationshilfen für die Oberservierungspraxis im Alltag. Unter »Geruchsdifferenzierung« etwa heißt es:

»Geruchskonserven werden entweder direkt von Körperteilen der verdächtigten Personen abgenommen oder konspirativ an den von ih- nen getragenen Bekleidungsgegenstän-den oder berührten Gegenstän- den gesichert. Die Sicherung von Geruchsspuren sollte in der Re-gel durch ausgebildete Spezialisten vorgenommen werden. Die Geruchsdifferenzierung führen speziell ausgebildete Hundeführer, Differenzierungshundeführer, mit abgerichteten Hunden, Differenzierungshunde, durch.«

»Mir ist aufgefallen, dass in den Stasi-Berichten niemals nach wirklichen Motiven von Menschen gefragt wird, sondern es sind feindlich-negative Kräfte«, sagt der Ost-Berliner Germanist und heutige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, »die sind beeinflusst vom Gegner, die spielen ihm in die Hände, das richtet sich gegen die Partei- führung, gegen die führende Rolle der Arbeiterklasse. Von wirkli- chen Motiven, von individuellen Erfahrungen und Konflikten, aus denen Menschen heraus gehandelt haben, ist nie die Rede gewesen. Sie sind immer Objekt von Beobachtung, Zersetzung, von Steue- rung usw. Da gibt es keine Frage nach dem ›Warum‹. Denn da würde ja Subjektivität aufscheinen, und das durfte nicht sein. Andernfalls wären die Leute ja gleichwertig gewesen.«

Laut Wörterbuch der Staatssicherheit durften einzelne Wörter nur in bestimmten Wendungen gebraucht werden. Andere Begriffe wie etwa »Hass« er- hielten eine völlig neue, positive Bedeutung: »Hass: intensives und tiefes Gefühl, das wesentlich das Handeln von Menschen mitbestimmen kann. Er widerspiegelt immer gegensätzliche zwischenmenschliche Beziehungen und ist im gesellschaftli- chen Leben der emotionale Ausdruck der unversöhnlichen Klassenge- gensätze zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie.«

Der »Doppelzüngler« war eine weitere sprachliche Kreation, die das untergegangene Ministerium für Staatssicherheit in die Welt setzte. Im besten Amtsdeutsch war damit definiert: »Eine unehrliche Person, die gegenüber zwei oder mehreren anderen Personen über ein und denselben Sachverhalt unterschiedliche Meinungen äußert. Verfolgt damit meist das Ziel, persönliche Vorteile in ihrer beruflichen oder gesellschaftlichen Entwicklung zu erhalten.«

Als politisches Instrument der Sprachlenkung sollte das »Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit« die innerhalb der Stasi verwendeteten Be- griffe auflisten und in ihrer Bedeutung festlegen. Ein »Kompromat« beispielsweise »ist ein Sachverhalt aus dem Leben einer Person, der im Wi- derpruch zu gesellschaftlichen Normen und Anschauungen steht.« Da gibt es weitere Wortschöpfungen wie den »Schweigefunker«: »Von imperialistischen Geheimdiensten geworbene, ausgebildete und mit entsprechenden Hilfsmitteln ausgerüstete Agenten in Zielländern subversiver Angriffe, die erst im Krisen- oder Kriegsfall entsprechend vorher getroffener Vereinbarungen aktiviert werden.«

Folgt man dem gebündelten Irrsinn der Termini und Sprachregelungen, dann erscheint die ehemalige DDR-Gesellschaft als Maschine, funktionell arbeitend und hierar-chisch ge- gliedert. Oberstes Ziel: den politischen Gegner zu »zersetzen« und zu »isolieren«. Da werden Menschen zu bearbeiteten Fällen, Handlungen zu Vorgängen, die zu löschen, zu tilgen oder zu bearbeiten sind. Nur, die Täter und Spitzel, sie verschwinden in dieser »lingua securitatis«, so Siegfried Suckut, Referatsleiter im Bereich Forschung und Bildung beim Bundesbeautragten für die Stasi-Unterlagen.

Franz Januschek, Sprachwissenschaftler aus Oldenburg, hat Berichte der Stasi mit denen des bundesdeutschen Verfassungsschutzes verglichen: »Ich hatte erwartet, dass sich so etwas wie eine Geheimdienst-Men- talität, eine Art Jagdinstinkt in den Observierungsberichten äußern würde. Das war aber nicht der Fall. In den Texten des MfS wird durchgängig gewertet. Es ist ein Charakteri- stikum fast jeden Satzes, dass in ihm eine Wertung der Bestrebun- gen oder der Leute, über die berichtet wird, vorgenommen wird. Stereotyp ist die Bezeichnung ›feindlich-negativ‹ oder ›negativ- -feindlich Kräfte‹. Der Verfassungsschutz dagegen bemüht sich dezidiert, eine solche Ausdrucksweise zu vermeiden.«

Die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes würden stets versuchen, eine umständlich wertende Ausdrucksweise zu vermeiden. Der Stasi hingegen seien Tausende von Spuren verlorengegangen, so Januscheck, weil niemand in der Lage war, die wichtigen Informationen aus dem ideologischen Kauderwelsch der Akten herauszufiltern. Und das bedeute nichts anderes, als dass der Verfassungsschutz wesentlich effizienter gewesen sei als die Stasi. Eine beunruhigende These - beunruhigend aber auch deshalb, weil sie sich an der Logik der Geheimdienste orientiert.

Jeder Spitzel besaß beim MfS einen eigenen, individuellen Decknamen. Vergeben wurde er mit der Verpflichtungserklärung des IM. Bei der Kontaktaufnahme mit seinem Führungsoffizier hatte sich der inoffizielle Mitarbeiter unter diesem Decknamen zu melden, seine Berichte für die Staatssicherheit mussten mit demselben Namen unter- schrieben werden. Dafür blieb es im Gegenzug den Spitzeln der Stasi vorbehalten, ihre Pseudonyme frei zu wählen. Hin und wieder schlug das MfS Decknamen vor, die dann von ihren Trägern akzeptiert werden mussten.

Häufig wurden Kurzformen des eigenen Vornamens mit dem Kosesuf- fix »I« gebildet. »IM Siggi« hieß ursprünglich Silke, »IM Addi« stand für Adelheid und »IM Hardy« für Harald. Anspielungen auf den Familiennamen waren mindestens ebenso verbreitet. DDR-Bürger namens Licht und Winter nannten sich »IM Dunkel« und »IM Sommer«. Auffällig ist auch die enge Verbindung zwischen beruflicher Tätigkeit und Pseudo- nym. Juristen bezeichneten sich als »IM Notar«, Lehrer im Hochschul- dienst als »IM Pädagoge«, Kellner gaben sich als »IM Biermann« aus, Friseusen schließlich als »IM Figaro«.

Ein eher indirekter Berufsbezug wird im übertragenen Namengebrauch erkennbar. Dafür offenbart er einen ironisch-doppeldeutigen Hintersinn: »IM Mikrobe« arbeitete als Kreishygieneinspektor, »IM Brücke« war Zahnarzt und »IM Rohr« Meister für Heizung und Sanitärtechnik. Andere Decknamen verweisen auf Übereinstimmung zwischen Tarnnamen und Spitzelhandwerk: »IM Kontrolle« wurde bei Observationen einge- setzt, »IM Melder« war als Ermittler tätig, »IM Nebel«, »IM Klette« und »IM Angriff« stellten sich ganz bewusst in den Dienst des MfS. Dabei durften graduierte Wissenschaftler ihren Titel im Decknamen behalten.

Demgegenüber hatte das Benennen nach Künstlern, Vorfahren und Verwandten eher eine symbolische Funktion: Hofften die »IM Einstein«, »IM Don Quichote« und »IM Faust« vielleicht, im Decknamen dem SED-Staat etwas Widerständiges entgegenzusetzen? Oder wollten »IM Peter Maf- fay« und »IM Picasso« der Stasi nur das Wesen bürgerlich-dekadenter Kultur erklären, sozusagen im konspirativen Zwiegespräch?

Die Decknamen der inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter hatten eine pa- radoxe Aufgabe zu lösen. Sie mussten den IM für die Öffentlichkeit unkenntlich machen und ihm gleichzeitig zu einer zweiten Identität verhelfen: als Ansprechpartner und Mit- glied des Ministeriums für Staatssicherheit. Dieser unsichtbare Tauschhandel ließ Menschen symbolisch verschwinden. Und das ist konstitutiv für die Verfolgungsapparate moderner Gesellschaften: das staatliche Bedürfnis nach individueller Identifizierbarkeit von Menschen mittels sprachlicher Erkennungszeichen. Auch wenn es Stasi-Spitzeln vorbehalten war, den Decknamen frei zu wählen, so transportierte er dennoch einen realen massiven Druck.

Andererseits boten Tarnnamen die Möglichkeit der Anspielung oder des kritischen Kommentars. Sie waren sozusagen ein sprachliches Ventil, sich zustimmend oder ablehnend gegenüber dem SED-Staat zu äußern. Die Stasi nahm das offensichtlich in Kauf - vielleicht im Bewusstsein, bei so manchem inoffiziellen Mitarbeiter als Gesprächs- partner oder gar als Ort realer Veränderung in der DDR ge- sehen zu werden. Wie bei allen Geheimdiensten standen auch die Decknamen und Sprachregelungen der Staatssicherheit für ein Prinzip. Und das hieß: Konspiration und verdeckte Einflussnahme.

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