Siebter Dezember 1941, 7 Uhr 55: In Pearl Harbor rufen die Kirchenglocken zum Gottesdienst als plötzlich Kampfflugzeuge der kaiserlich-japanischen Marine ihre Bomben über der Hawaii-Insel Oahu abwerfen. Zwei Stunden später ist der überraschende Angriff auf die Pazifikflotte der Vereinigten Staaten beendet. Zurück bleibt ein Inferno des Todes: Knapp 2.500 Menschen kommen in Pearl Harbor ums Leben. Verbrannt, ertrunken oder von Bomben zerfetzt. Insgesamt 21 Kriegsschiffe und 200 Kampfflugzeuge, die versenkt, zerstört oder beschädigt werden. Diesen "Tag der Infamie" (US-Präsident Roosevelt) auf die Leinwand bannen, eingebettet in eine pathetische Liebesgeschichte, das hat Regisseur Michael Bay in seinem 3-stündigen Kinodrama versucht, das jetzt in die Kinos kommt.
Am Tag nach dem Angriff auf Pearl Harbor ging das Drehbuch des wohl bekanntesten Anti-Nazi-Films Hollywoods bei den Warner Brothers ein: Casablanca. 24 Stunden nach der Tragödie im Pazifik wussten die Verantwortlichen der Filmgesellschaft sofort, was sie in den Händen hielten: den Plot des Films, der die Vereinigten Staaten in den Krieg begleiten würde.
Nicht nur die anrührend inszenierte Liebesgeschichte zwischen der schönen Antifa-schistin Ilsa Lund und dem aufrechten Barbesitzer Rick Blaine verhalf Casablanca zu seinem Erfolg. Der Kinostreifen kritisierte die bis dahin geltende US-amerikanische Politik des "Sich-Raushaltens". Es darf keine politische Neutralität geben im Schatten des Krieges - das war die antipazifistische, anti-isolationistische Botschaft an das Kinopublikum. Schließlich verzichtet Rick auf die Liebesbeziehung mit Ilsa und entscheidet sich für den Widerstand gegen das NS-Regime.
Jetzt, fast 60 Jahre später, kommt mit Pearl Harbor ein revisionistischer Kommerzstreifen in die Kinos, der mit einer ganz anderen, subtilen Botschaft aufwartet: Der US-amerikanischen Schutz- und Sorglosigkeit von 1941 wird der energische Wille zur Vergeltung gegenübergestellt. Pearl Harbor, der Film, gibt Auskunft über die heutige innere Verfassung der Vereinigten Staaten: gedreht in der Ära Clinton, produziert für die konservativen Jahre des George Bush mit dem umstrittenen nationalen Raketenabwehrprogramm.
Dafür mußten Pearl Harbor-Regisseur Michael Bay und sein Produzent Jerry Bruckheimer die Geschichte vereinfachen und banalisieren. Bei ihnen sind - trotz aller beschwörenden Hinweise auf Detailtreue - nicht die Fakten entscheidend. Ihnen geht es mehr um die visuelle Überzeugungskraft der Bilder denn um historische Genauigkeit: Mit Pearl Harbor setzt die Traumfabrik Hollywood wieder einmal auf Überwältigungs-Ästhetik.
Bays Universum ist - nicht erst seit seinen Kassenschlagern The Rock und Armageddon - der kompromisslose Actionfilm. Aber jetzt geht es darum, sich auf vereinfachende und weniger verstörende Weise geschichtlicher Ereignisse zu bemächtigen. Und so verbindet der "böse Bube des schnellen Schnitts" (David Bordwell) auch noch die Geschichtslegende mit der schmalzigen Romanze:
Zwei Jugendfreunde (Ben Affleck und Josh Hartnett), haben nicht nur dieselbe Leidenschaft - das Fliegen, vor allem für die US-Air Force -, sie lieben auch dieselbe Frau (Kate Beckinsale). Nach allerlei amourösen Verwicklungen treffen sich die drei in Pearl Harbor wieder. Doch bevor die Dreiecksgeschichte zu ihrem Ende kommt, bombardieren die Japaner den Flottenstützpunkt. Seite an Seite starten die beiden Fliegerasse einen Rachefeldzug, bei dem sich einer von ihnen opfert. Der andere kehrt zur geliebten Krankenschwester zurück, die das Vermächtnis des toten Freundes unterm Herzen trägt: sein Baby.
Es geht also um Alles und Nichts. Um Gewalt und Leidenschaft, Schuld und Sühne, um political correctness und und politischen Betrug, um Läuterung und das Recht auf Vergeltung. Eine Mischung aus Katastrophenkino, soap opera und Kriegsfilm, realisiert mit Computeranimationen. Und einem ultimativen Höhepunkt: der Untergang des Schlachtschiffes "Arizona". Alles ist versammelt, um jede nur erdenkliche Zielgruppe zu bedienen.
Doch es gehört zur Aura des Films, dass er nichts von ästhetischer oder technischer Grenzüberschreitung, gar Innovation in sich trägt. Pearl Harbor zielt mit seiner digitalen Technik auf den Glamour des Wohlbekannten, nicht auf die Projektion des Ungesehenen. Er visualisiert das Vergangene, um die Zukunft zu besetzen.
Pearl Harbor gibt gar nicht erst vor, ein "Anti-Kriegsfilm" zu sein. Das ist aber auch schon das Mildeste, was man über den Kinostreifen sagen kann. Denn hier wird das Kriegspathos inszeniert. Der japanische Überfall dient dabei ebenso wie die Liebesgeschichte als Vorwand für Special-Effects, als Kulisse, vor der sich die Computeranimateure Walt Disneys beweisen dürfen. Beispiel: eine fallende Bombe mit subjektiver Kameraperspektive - der Zuschauer stürzt geradewegs in die Detonation. 40 Minuten lang dauert die Schlachtensequenz. Pearl Harbor ist selber jene Materialschlacht, von der Regisseur Bay vorgibt, nur zu erzählen.
Damit will er seinen Kollegen Steven Spielberg und dessen Filmanfang aus Der Soldat James Ryan übertrumpfen. Spielberg hatte den Zuschauer zu Beginn von James Ryan mit einem optisch-klanglichen Sperrfeuer zu überwältigen versucht, um damit den Boden für seine zentrale Einsicht zu bereiten: dass es notwendig ist, sich an moralischen Werten zu orientieren. Auch und gerade im Angesicht des Krieges.
Bei Regisseur Bay dagegen werden andere Einsichten vorbereitet. Dem Recht auf Vergeltung stehen differenzierte politische und ethisch-moralische Erwägungen nur im Wege. Dass der kernige Colonel Doolittle (Alec Baldwin) dabei seine Piloten wissentlich in den Tod schickt, weil sie nicht genügend Treibstoff für einen Rückflug zum Flugzeugträger haben, stellt Bay als praktische Bewährung heraus: Erst im Krieg werden Jungen - die Protagonisten des Films - zu wahren Männern, die sich von der Gewalt des Krieges verlocken lassen.
In Pearl Harbor ist die Tauglichkeitsprüfung der Rekruten ein lustiges, sexuelles Tete à Tete zwischen den Krankenschwestern und den Kriegsfreiwilligen und eben nicht, wie in Stanley Kubricks Full Metal Jacket, ein sadistisch-brutales Vorspiel zum Töten. In Pearl Harbor reduziert sich "Frau-sein" auf das Heilen und Versorgen der verletzten Helden und auf die tradionelle Rolle der Geliebten, die auch im Krieg perfekt gekleidet ist und eine schöne Figur zum mörderischen Treiben macht.
Und vor allem zeichnet Pearl Harbor ein Feindbild, das sich aller Hemmungen entledigt. Die Japaner: eine morallose menschliche Spezies, "Bastarde" wie einer der Soldaten sagt. In einer wenige Sekunden dauernden Einstellung kurz vor dem Bombardement einer japanischen Stadt schauen Frauen in weißen Kimonos überrascht nach oben auf die nahende US-Bomberstaffel. Schnitt. Regisseur Bay verzichtet darauf, die verheerenden Folgen der mehrjährigen US-Bombarde-ments unter der japanischen Zivilbevölkerung zu zeigen - während die Leiden hilfloser GIs in Pearl Harbor nach allen Regeln der Maske genüsslich zelebriert werden: ein explodierendes Hospital, ölverschmierte, bis auf die Knochen verbrannte Schwerverletzte. Japaner dagegen sind keine Opfer, sondern Täter, die der gerechten Strafe der USA anheimfallen. Oder zum Dolchstoß bereit sind, wie jener US-Zahnarzt japanischer Abstammung, der bei Bay als Agent im Dienste seiner kaiserliche Majestät die neue Heimat verrät.
Zu diesem einseitig inszenierten Spektakel gehört, dass Pearl Harbor die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, die den Krieg mit Japan beendeten, geflissentlich auslässt. Andernfalls erwiesen sich die Japaner auch als Opfer US-amerikanischer Kriegsführung.
Zumal es an der militärischen Notwendigkeit des Atombombeneinsatzes ganz erhebliche Zweifel gibt. Zwar glauben viele US-Amerikaner noch immer, "Little Boy" und "Fat Man" (wie die Bomben im verniedlichenden Sprachgebrauch der Militärs hießen), seien gerade deshalb notwendig gewesen, um die Kapitulation Japans zu erzwingen und den Tod annähernd einer Million GIs zu verhindern. US-Historiker haben jedoch seit einigen Jahren anhand von Dokumenten nachgewiesen, dass das Gegenteil zutraf: Fast die gesamte Militärführung hielt die Bombenabwürfe für militärisch nicht gerechtfertigt.
Andererseits verbinden die Japaner laut Umfragen mit Pearl Harbor heute vor allem ein schönes Urlaubsparadies und nicht den heimtückischen Angriff von 1941. Besonders Jugendliche haben das Ereignis mehr denn je verdrängt. Bis vor wenigen Jahren noch war in den japanischen Schulbüchern über Pearl Harbor und den pazifischen Krieg kaum etwas zu lesen. Wenn überhaupt, dann wurde der Überfall als ein Akt der nationalen Selbstverteidigung beschrieben. Von ihrer militaristischen Geschichte haben sich die Japaner bis heute nicht wirklich distanziert. Die Hauptkriegsverbrecher werden sogar als Märtyrer dargestellt. Von einem echten Schuldeingeständnis keine Spur.
Dagegen macht sich Pearl Harbor rechte Verschwörungstheorien zu eigen: Ein US-Offizier (Dan Akkroyd) glaubt Beweise für den bevorstehenden Überfall der Japaner zu haben. Seine Vorgesetzten verbieten ihm, diesen Verdacht zu äußern. Ob aus arroganter militärischer Selbstüberschätzung oder um Informationen gezielt zu unterdrücken, diese Entscheidung bleibt dem Zuschauer überlassen.
Dabei ist die Schuldfrage für das Fiasko vor der Hawaii-Insel Oahu für die Vereinigten Staaten bis heute von großer Bedeutung: Wussten die US-Militärs damals tatsächlich vom bevorstehenden Angriff der Japaner auf Pearl Harbor? Hat Präsident Roosevelt diese Hinweise absichtlich ignoriert und das Desaster der Pazifikflotte bewusst in Kauf genommen, um das Land in den Zweiten Weltkrieg führen zu können? Eine Auffassung, die bis heute gerade von den Vertretern des außenpolitischen Isolationismus vertreten wird.
Doch anders als es der Film nahe legt, gibt es für diese These bislang keinerlei Belege. Weder Militärhistoriker noch US-Politiker haben irgendwelche Unterlagen zur Stützung dieser Behauptung gefunden. Noch in den dreißiger Jahren und selbst nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte sich der US-Kongreß für eine Politik des "Sich-Raushaltens" entschieden, nicht zuletzt, um die wirtschaftliche Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland nicht zu gefährden. Die Bevölkerung gab sich dem Slogan "America first" hin. Dem Gallup-Institut zufolge anworteten im September 1939 auf die Frage, ob die USA sich militärisch gegen Deutschland wenden sollten, 84 Prozent der Interviewten mit "Nein". Anders dagegen Franklin D. Roosevelt, seit 1933 Präsident der Vereinigten Staaten. Sein Ziel war es, das Land aus den Fesseln der selbstverordneten Neutralität zu befreien und seine politischen Gegner vor allem im Außenministerium, die Befürworter eines "appeasement", eines Ausgleichs mit dem NS-Regime, in den Hintergrund zu drängen. Erst der Überfall auf Pearl Harbor brachte die außenpolitische Wende und war der Auslöser für den Kriegseintritt der USA.
Diese historischen Zusammenhänge läßt der Film Pearl Harbor völlig außer acht. Er zeigt Präsident Roosevelt als gebrechlichen, aber willensstarken Mann, dem es am 7. Dezember 1941, dem "Tag der Infamie", nur noch um Vergeltung gegangen sei.
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