Pop-up-Hoffnung

Sicherheit Wer in unseren Städten Rad fährt, spielt mit seinem Leben. Die Coronakrise zeigt, wie ein humanerer Stadtverkehr aussehen könnte
Ausgabe 20/2020
Pop-up-Hoffnung

Illustration: der Freitag

Für den Bruchteil einer Sekunde nehme ich diese Gefahr wahr, die gerade dabei ist, zu einer Lebensbedrohung für mich zu werden. Dabei habe ich mich bis zu diesem Moment sicher gefühlt; es ist zwar dunkel auf dieser Hauptstraße gewesen, doch mein Rad ist mehr als ausreichend beleuchtet. Ich sehe das Auto näher kommen – aber es geht alles viel zu schnell. Ich kann nicht mehr reagieren. Das verdammte Auto hat mich erfasst. Ich erinnere mich genau, wie es mir durch den Kopf schießt: Scheiße, ich werde gerade überfahren!

Das Fahrzeug, das erst kurz vor dem Aufprall zu beschleunigen begann, bringt mich nicht sofort zu Fall. Es drückt stattdessen mein Rad und mich nach vorne – einen Meter, zwei Meter, drei Meter. Im Zeitraffer ringe ich um Fassung: Hat der Fahrer mich etwa noch nicht wahrgenommen? Panikgefühle steigen in mir auf. Gerade erst habe ich den Aufprall überstanden, bin dem Tode von der Schippe gesprungen! Warum macht dieser irre Fahrer immer weiter? Nach vier, fünf quälenden Metern kommt das Fahrzeug endlich zum Stillstand. Wie durch ein Wunder handele ich mir lediglich ein paar Prellungen und Schürfwunden ein.

Ich teile solch ein Erlebnis mit vielen Fahrradfahrern, ich bin nur einer von ihnen: ein stinknormaler Alltagsradler in einer deutschen Großstadt. Ich habe einen „ganz normalen“ Unfall überlebt, wie sie täglich in unseren Städten vorkommen – und jedes Jahr werden es mehr. Ich stehe heute – wenn auch mit emotionalem Abstand – noch immer zu den Zeilen, die ich in dieser Nacht, noch unter dem Einfluss des ausgeschütteten Adrenalins, aufschrieb: „Ich bin dankbar und erleichtert, denn ich habe heute Abend einen Unfall verdammt glimpflich überstanden. Ich bin wütend und zornig, denn ich hätte heute sterben können, weil die deutsche Verkehrsinfrastruktur darauf angelegt ist, dass Menschen wie ich übersehen, überfahren, ganz einfach ignoriert werden. Weil wir Verkehrsteilnehmer zweiter Klasse sind.“

Oft höre ich von anderen: Was will man auch machen! Ich wäre halt einfach „übersehen“ worden. Das klingt, als hätte ich eine Naturkatastrophe überstanden, für die allenfalls der liebe Gott verantwortlich gemacht werden könne. Schicksal eben. Kein Beamter oder Politiker hat nach meinem – und all den anderen Fahrradunfällen – die Systemfrage gestellt: Wie kann es sein, dass eine zentrale Verkehrsachse der Stadt keine durchgängigen, geschweige denn sicheren Radwege hat?

Wer in der Stadt Rad fährt, ist es gewohnt, dass Radwege voller Wurzelschäden sind. Dass man dort weitaus langsamer vorwärtskommt als auf der Straße, weil die Wege eng, scharfkurvig und von schlechterem Belag sind; weil sie selten gereinigt und gestreut und gepflegt werden; weil sie ganz oft im Nichts enden.

Mein Unfall ist vor Corona passiert. Zu einer Zeit, als die 1,50-Meter-Regel belächelt wurde: Ach komm, stell dich nicht so an, haben mir Menschen gesagt, die ihr Fahrrad höchstens mal am Wochenende nehmen. Sie wissen nicht, wie es ist, von schnellen Autos viel zu eng überholt zu werden – eine Erfahrung, die Alltagsradler jeden Tag machen. Jetzt, im Frühling 2020, ist Krise. Jetzt haben sich die 1,50 Meter Abstand in die Köpfe eingebrannt. Zumindest, was den direkten Kontakt von Fußgängern untereinander angeht.

Die bürgersteigliche Rücksichtnahme funktioniert. Könnte man sie auch auf die Straße übertragen? Die Voraussetzungen wären gut; seit der Berufsverkehr wegbrach, ist dort viel weniger los. Doch Betroffene berichten, dass sie derzeit viel rücksichtsloser bedrängt, überholt und geschnitten werden als zuvor. Dass dem nicht nur gefühlt so ist, haben Blitzer-Auswertungen in New York ergeben. Mitte April wurde dort eine dramatische Zunahme von Rasern auf den freieren Straßen verzeichnet. Polly Trottenberg, die Verkehrsbeauftragte von New York, sagt, das sei Anlass zu „großer Sorge“ – weil deshalb mehr Unfälle passierten und die Kliniken bereits mit Coronavirus-Patienten belastet seien.

Sie spricht damit unbewusst aus, was auch viele deutsche Verantwortliche denken, die bislang kaum Geld investieren wollten, um die Sicherheit der Radfahrer auf den Straßen zu erhöhen. Indirekt ist es jetzt doch wichtig geworden, das Überfahren von Radfahrern zu verhindern: Man will möglichst viele der Krankenhaus- und Intensivbetten für Corona-Patienten frei halten.

Die viel zu schmale Fußgänger- und oft gar nicht existente Fahrrad-Infrastruktur war schon vor dem Virus ein Problem – in allen Kommunen. Inzwischen stauen sich Spaziergänger, Frischluftschnapper, Sportler und Ausflügler auf den vorhandenen Wegen, die heillos überlastet sind. Die Zivilgesellschaft macht immer stärkeren Druck. Verbände, Radfahrvereine und -initiativen, Verkehrswendebündnisse fordern den Bund auf, „coronasichere Straßen“ zu schaffen – um den nötigen Abstand einhalten zu können. Den notwendigen Raum dafür gibt es in allen Städten: Das können vielspurige Alleen sein, die bislang jedoch vom Autoverkehr dominiert werden.

„Damit der empfohlene Sicherheitsabstand auf der Straße eingehalten werden kann, braucht es dringend eine schnelle Veränderung der Aufteilung des Straßenraums“, hat etwa die Organisation Changing Cities in einem offenen Brief an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer geschrieben. Der Verein ist einer der Motoren der Verkehrswende in Berlin, der Stadt, in der es 2016 den erfolgreichen Volksentscheid Fahrrad und 2018 das Berliner Mobilitätsgesetz gab. Fahrräder und öffentliche Verkehrsmittel sollen bei der Planung nun Vorrang vor dem Autoverkehr bekommen.

Kommt sie nun doch, die Verkehrswende, sozusagen durch die Hintertür eines Ausnahmezustands? Flächendeckend ganz sicher nicht: In den meisten deutschen Rathäusern spielt der Radverkehr gerade eine marginale Rolle. In meiner Heimatstadt Trier wurden mir Wut und Spott entgegengeschleudert, als ich kurzfristige Verbesserungen für den Fuß- und Radverkehr gefordert habe. Jetzt sei ja Krise, da habe man Wichtigeres zu tun, als den dominierenden Autoverkehr einzudämmen! Als in der Stadt dann vor Kurzem die Idee aufkam, ein Autokino einzurichten, waren alle begeistert, die Unterstützung war gewaltig. Es ging ganz schnell. Mancherorts kommt es jetzt sogar zum Rollback: So hat Düsseldorf, das in Folge der Diesel-Urteile Umweltspuren für Radfahrer, Busse, E-Autos und Taxen einführen musste, diese vorübergehend ausgesetzt – die Leute sollten in der Krise lieber das Auto nehmen.

In Deutschland haben vor allem die Berliner Behörden Fakten angesichts der Fahrradmisere geschaffen. So hat der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg binnen wenigen Wochen Maßnahmen umgesetzt, die normalerweise Monate oder Jahre brauchen. Sogenannte Pop-up-Bike-Lanes wurden geschaffen, temporäre Radwege. Mit überschaubarem Aufwand wurden einzelne Fahrspuren mit Farbmarkierungen und Barken für den Radverkehr umfunktioniert. Auch an der Hamburger Außenalster wurde eine Straßenfahrspur vorübergehend zum Radweg umfunktioniert.

Nichts hält länger als ein Provisorium – der alte Spruch dürfte einiges Wutpotenzial entfalten, sollten die temporären Radwege irgendwann wieder rückabgewickelt werden. Tausende Menschen, die von den Öffis auf das Fahrrad umgestiegen sind oder ihre Erledigungen statt mit dem Auto nun mit dem Velo machen, werden das nicht wieder aufgeben wollen.

Ein paar Stunden bevor ich diesen Text zu Ende schreibe, überholt mich in Trier ein Autofahrer mit dreist geringem Abstand. Von meinen Gesten, dass das bei Weitem keine 1,50 Meter waren, lässt er sich nicht beeindrucken; an der nächsten Ampel verliere ich ihn auf einer vier- bis sechsspurigen Straße aus den Augen. Berlin mit seinen geschützten Corona-Radstreifen ist in diesem Moment nicht nur geografisch weit weg.

Die Stadt könnte, in Sachen Verkehrswende, Avantgarde sein – und Dutzenden Radentscheid-Initiativen in der Provinz Rückenwind verschaffen. Vor ein paar Wochen, vor Corona, konnte man sich das kaum vorzustellen.

Vélorution

Bogota: Mit der Ausweisung von etlichen temporären Radstraßen war die kolumbianische Hauptstadt zusammen mit Berlin eine Vorreiterin der Verkehrswende.

Köln: Während der Corona-Krise will Köln verstärkt Autospuren für Radfahrer freigeben und Tempo 30 einführen.

Lima: In der peruanischen Hauptstadt sollen in drei Stufen knapp 300 km temporäre Radspuren entstehen.

London: Dauerhafte Radwege, temporäre Radspuren, breitere Bürgersteige und bessere Ampelschaltungen sollen den Radverkehrsanteil verzehnfachen und den Fußverkehrsanteil verfünffachen.

Mailand: Auf 35 km Länge sollen in der Innenstadt temporäre Radwege und Straßen mit Vorrang für Rad- und Fußverkehr entstehen, zudem gilt Tempo 30.

New York: Angesichts des massiven Rückgangs des Autoverkehrs sollen rund 160 km Straße in Corona-Zeiten für Autos und Lastwagen gesperrt, Bürgersteige erweitert und Radwege ausgebaut werden.

Paris: Mit der Rue de Rivoli wurde eine Hauptstraße im Zentrum vorübergehend für den Autoverkehr gestoppt. Die bereits geplante „Vélorution“ mit mehr permanenten Radwegen und der Abschaffung von 72 Prozent aller Straßenparkplätze soll beschleunigt werden.

Michael Merten arbeitet als Journalist in der Region Trier-Luxemburg. Die Verkehrswende ist einer seiner Schwerpunkte

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