Das Herz der Stadt

Retorte Lina Kim und Michael Wesely auf fotografischer Spurensuche in Brasilia

In diesen Wochen, da sich zum 60. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges jährte, erinnerte man sich auch der Aufbauleistungen, die nach dem Jahre 1945 die Grundlage für ein menschenwürdiges urbanes Leben ermöglichten. Während in Deutschland und manchen Nachbarstaaten wieder bewohnbare Städte riesigen Trümmerwüsten abgetrotzt werden mussten, entstand in Brasilien nur wenige Jahre später eine Stadt gleichsam aus dem Nichts: Brasília. Während im Alten Europa auf der Asche einer von Menschen herbeigeführten Katastrophe ein gigantischer Wiederaufbau betrieben und nur im Kleinen neue städtebauliche Erkenntnisse in gebaute Realität umgesetzt wurden, versuchte ein aufstrebendes Entwicklungsland sich durch friedliche Inbesitznahme seines zentralen Territoriums eine neue Identität zu formen.

Brasília, die seit dem 18. Jahrhundert imaginierte und ersehnte neue Hauptstadt des größten lateinamerikanischen Landes, die die Küstenmetropole Rio de Janeiro ablöste, ist eine Stadt aus der Retorte. Erdacht wurde sie von dem Städteplaner Lúcio Costa und dem Architekten Oscar Niemeyer in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsplaner Roberto Burle-Marx, politisch in die Tat umgesetzt durch den 1956 bis 1961 regierenden Präsidenten Brasiliens, Juscelino Kubitschek de Oliveira. Brasilia wurde zum vielfach gepriesenen, aber auch heftig kritisierten Modellfall einer modernen Metropole, Verwaltungssitz und Wohnmaschine im Grünen, inspiriert von den Ideen eines Le Corbusier und den Richtlinien der Charta von Athen asu dem Jahr 1933, die als das weltweit gültige Manifest des Neuen Bauens gilt. Mitten im unermesslich weiten, noch unerschlossenen Landesinneren wurde das Zentrum Brasília in kürzester Zeit erbaut - die einzige zentral geplante Stadtschöpfung dieser Art im 20. Jahrhundert.

Am 21. April 1960 ist Brasilia nach rund tausend Tagen Aufbau termingerecht und feierlich eingeweiht worden. An dem Tag, an dem auch des Unabhängigkeitshelden des Landes, Tiradentes, gedacht wird, verwandelte sich eine Utopie in Realität - mit all den Schwierigkeiten, Problemen, Unzulänglichkeiten und Kinderkrankheiten, die ein solch missionarisches Unternehmen mit sich bringt. Brasilia heute ist mit 45 Jahren als Großstadt noch jung und hat sich doch schon tief in die Historie des Landes und der Urbanistik eingeschrieben. Ihre eigene Geschichte und den damit untrennbar verbundenen Pioniergeist im allgemeinen Bewusstsein und vor allem ihrer Bewohner zu bewahren und zu reflektieren, ist eine wissenschaftliche Verpflichtung, gegenüber der Einzigartigkeit dieser zivilisatorischen Großtat. Zugleich ist sie Notwendigkeit, um die Zukunft der Stadt und das immer auch Unvorhersehbare ihrer Entwicklung in den Griff zu bekommen.

Nicht selten sehen Außenstehende schärfer, erkennen Mängel, haben Ideen und ergreifen Initiativen. "Arquivo Brasilia" (Archiv Brasilia) verdankt sich vor allem Michael Wesely, der seit längerem mit dem Land vertraut ist. Der 1963 in München geborene und in Berlin lebende Fotograf, durch Langzeitbelichtungen mit selbst gebauter Loch- oder Spaltkamera bekannt geworden, ist von Brasilia und seiner Entstehungsgeschichte fasziniert. Konfrontiert mit den immer gleichen historischen Fotos, regte er eine zweijährige Bildforschungsarbeit in den Archiven Brasilias an. Als Partnerin unterstützte ihn die 1965 in São Paulo geborene bildende Künstlerin Lina Kim, die wie er 2002 auf der dortigen Biennale ausgestellt hatte. Über 100.000 Fotos haben die beiden unter Mithilfe von mehreren Mitarbeitenden gesichtet, rund 4.000 zur weiteren Verwendung ausgewählt und eingescannt, so dass ihr Erhalt gesichert ist. Zahlreiche Schäden aller Art wurden restauriert sowie Farben und kompositorische Mängel der oft als bloßes Dokument entstandenen Aufnahmen korrigiert.

Die zum 45. Geburtstag der Stadt im April dieses Jahres eröffnete Ausstellung mit rund 600 Fotos findet im Teatro Nacional Cláudio Santoro de Brasilia statt. An diesem zentralen und prominenten Ort bietet die extrem lange Stirnwand des Vestibüls die Möglichkeit, in epischer Breite das Wachsen der Stadt in der ursprünglich kahlen Steppenlandschaft in einzelnen nach Bauabschnitten und Gebäudetypen gegliederten Kapiteln darzustellen. Ein gebanntes Publikum flanierte bei der Eröffnung von Bild zu Bild und verfolgte die Eroberung des Raums: Boden wurde planiert; Flugzeuge schafften Material herbei; allmählich reckten sich die Gerippe von Palästen und Ministerien in die unendliche Weite des Himmels; erste Wohnblocks, Schulen, Banken und Hotels ergänzten den "Plano Piloto", das Herz der Stadt, das sich aus der westöstlich gerichteten Monumentalachse und der nordsüdlich verlaufenden Hauptstraßenachse zusammensetzt. In Tischvitrinen ist das Entstehen gesellschaftlichen Lebens zu sehen. Politiker kommen zu Besuch, der skeptisch-gönnerhafte Fidel Castro aus Kuba ebenso wie der geschäftige Eugen Gerstenmaier aus (West-)Deutschland. Die Welt gibt sich ein Stelldichein in Brasilia.

Die Ausstellung tourt derzeit durch andere brasilianische Städte und wird im nächsten Jahr vermutlich unter anderem in Gent und Berlin zu sehen sein. Wesely wird seine eigenen Aufnahmen ausstellen, ein mehrbändiges Buch wird erscheinen und so das "Archiv Brasilia" in ein geistiges Labor verwandeln, das weiterhin Denkanstöße und Positionsbestimmungen auslösen möchte. Die Kuratoren Kim und Wesely hatten deshalb ihrer Ausstellung schon ein gleichnamiges zweitägiges Symposium am selben Ort vorangehen lassen. Architektur- und Kunsthistoriker, Politologen und Soziologen aus Brasilia, São Paulo, Gent, London und Berlin sprachen über Brasilia als Utopie, historisches Dokument, Erbe und futuristisches Projekt.

Brasília, die von Künstlern erdachte und die Integration der Künste einschließende Stadt - 1987 von der Unesco zum Weltkulturerbe deklariert -, funktioniert. Und doch drängen ungelöste Probleme, von den unaufhaltsam wachsenden Satellitenstädten bis hin zu wachsender Kriminalität, Umweltverschmutzung und einem defizitären ÖPNV. Auch ist die Balance zwischen Denkmalcharakter und Innovation, zwischen Natur und Architektur, leerem und gebautem Raum gefährdet. Seit Jahren schon stehen zahlreiche postmodernistische Allerweltsbauten im Herzen der Stadt. Selbst der 98 Jahre alte Oscar Niemeyer, noch immer weltweit begehrt (wie jüngst in Potsdam), wirft seinen eigenen Maßstäbe über den Haufen und macht geschmäcklerische Kompromisse, wenn nur er und die alte Garde zum Zuge kommen. Zurzeit entstehen nach seinen Plänen zwei neue Bauten, Nationalmuseum und Nationalbibliothek, beide seit langem geplant und für die Erfüllung der Hauptstadtfunktion absolut notwenig. Schon im nächsten Jahr wird man wohl sehen, ob sie für die Stadt eine Bereicherung sein werden oder die Krise perpetuieren.


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