Alles ist Vorstellung

IN DEN HÖCHSTEN NIEDERUNGEN Fritz Rudolf Fries' Roman "Der Roncalli-Effekt" zeigt die Historie der DDR im Zirkusgewand und einen Autor bei der Annäherung an sich selbst

Zu einem runden Republiksgeburtstag der DDR - es könnte der 30. gewesen sein - hat auf einem Transparent die Losung gestanden: "30 Jahre DDR - 30 Jahre Staatszirkus". Der Spruch machte in der DDR die Runde. Eventuell hatten sich die sozialistischen Unterhaltungskünstler gar nichts dabei gedacht, als sie diese Beziehung erdachten - mag sein, aber vielleicht hat auch ein Schelm diese vielsagende Gleichung ins Leben gerufen - wer will das wissen. Diese weiße Clownsplakatnummer auf rotem Grund kann als Sinnbild für das in diesem Land reichlich vorhanden gewesene, freiwillig-unfreiwillige Komikpotenzial begriffen werden. Eine neben vielen anderen Lachnummern, die in der DDR aus fahriger Korrektheit entstanden. Wenn schon eine Losung zum Staatsfeiertag, dann eine schlichte, bei der man sich ins Jubiläum einreiht und mitfeiert. Hier kam das Komische in verstecktem Gewande daher, und fand in der Innenseite des engen Mantels der langweiligen Sichtpropaganda genug Raum um sich als Realsatire zu formen.

Vieles war Zirkus in der DDR. Aber der Weltenlauf überhaupt gibt verschiedentlich Anlass, ihn mit einer Manege, einer Bühne im weiteren Sinne zu vergleichen. Weltweit spielen Diktatoren, aber auch Herrscher kleineren Formats ihre Rollen, wobei sich die unaufhaltsamen Weltverbesserer als ausgewiesene Clowns erweisen. Sie besitzen die Aura von Provinzkomikern, werden aber, da sie von Einfluss sind, kniefällig angebetet und nur selten verlacht. Wahrlich eine Häufung von Lachnummern, die in der Geschichte auch schon bitter ernst verlaufen sind, denen man aber mit Komik durchaus auf die Schliche kommen kann. So lässt sich Geschichte erzählen, auch die der DDR, die Fritz Rudolf Fries in seinem Roman Der Roncalli-Effekt als Zirkusnummer in Szene setzt. Manege frei also für Hochseilartisten, die mit und ohne doppelten Boden arbeiteten, Dompteure aller Schattierungen, die die Peitsche offen oder versteckt zeigten, Zauberer aller Couleur, die aus nichts viel zu machen verstanden, Helden der Arbeit, genial in der Verlagerung sozialistischen und anderen Eigentums und jede Menge Clowns, weiße und rote, brave und aufmüpfige, gewollte und ungewollte, manche mit Pappnase, andere weniger gut zu erkennen.

Man entwickelt bei der Geschichte, die Fries erzählt, ein Gespür für den Zirkus, der sich ereignete und alltäglich abläuft, der es also Wert ist, sich ihm - und im Falle der DDR in einer historischen Retrospektive - zu nähern. Für dieses Vorhaben schafft Fries eine Figur, die eine Doppelexistenz führt. Den Italiener August Augustin, von Beruf Clown, hat die Liebe in die DDR verschlagen, wo er am 13. August 1961 die achtzehnjährige Anne ehelicht und sich fortan in einem gleich doppelt gesicherten Gewahrsam weiß. Nur sanft rüttelt er an den Mauern, die ihn umgeben. Der Mann liebt seine Frau, bricht dennoch immer wieder aus, verharrt aber in seiner Liebe wie in dem Lande, von dem er nicht loskommt. Er schafft sich Freiräume, vollzieht kleine Grenzübertretungen und bleibt dennoch wo er ist, richtet sich ein in seiner Unbehaustheit, strickt an einem Netz für einen Hochseilakt, das ihn allerdings nicht hält, als er fällt, nicht halten kann, weil es zerissen wird, als im DDR-Zirkus die Lichter ausgehen. Am Ende also der freie Fall, der in einem Gefängnis in Venedig endet, wo er sich einer Anklage erwähren muß. Beschuldigt wird er, seine Geliebte Clarissa, eine Dompteuse, ermordet zu haben. Plötzlich wird aus dem Spieler, der sich die Geschichte vornahm, um ihr mit seinen Streichen beizukommen, jemand, mit dem nun die Geschichte ein Spiel spielt. Doch der Clown, inzwischen Rentner, wird nicht erst zum "Klohn", als er nachdrücklich herausgefordert wird sich zu befragen, was dies war, sein Leben, zu überlegen, wie seine Erinnerungen mit denen zusammengehören, die ohne sein Wissen über ihn und den angeblichen Mord existieren.

Fries entwirft ein Ver- und Enthüllungsspiel, bei dem der dumme August in Gestalt einer zerrissenen Person erscheint, als einer, der den roten, aufmüpfigen Clown spielt, aber dennoch viel von dem weißen Clown, dem traurigen, besitzt, ohne dass er sich dessen bewußt wird. Der Roman ist eine Clownerie, eine, die sich in den höchsten Höhen und den Niederungen des Zirkus ereignet. Die Janusköpfigkeit ist es, die Fries interessiert, die zwei Seiten einer Medaille will er sichtbar werden lassen, wobei die Doppelgesichtigkeit der erzählten Geschichte und auch der Geschichte, in der der Roman zeitlich spielt, aufgezeigt wird. Kein Wunder also, dass sich dabei auch Abgründe auftun, solche ganz persönlicher Art und im weiteren Sinne gesellschaftliche. Narreteien überall und ein Narr nur, wer dies leugnen wollte. Da sind Erneuerungen von Nöten, sind grandiose Ideen gefragt. Dies ist ein Aspekt des sogenannten Roncalli-Effekts. Als eine Kapitel der Zirkusgeschichte, ging es da um die Erneuerung des Zirkus durch Rückgriffe auf das Theater und die Poesie. Dazu baute man auf Effekte, war auf Illusion aus, war erfüllt von der Liebe zum Absoluten.

Aber diese Ansprüche sind nicht nur aus der Welt des Varietés vertraut. Und so tauchen in der von Fries entworfenen Manege noch ganz andere Gestalten auf, finden sich unter dem Zirkusdach Geschichte Erneuerer unterschiedlicher Couleur wieder. Deren Ideen dürfen auf den Rängen nach Herzen be- und verlacht werden, selbst wenn bei diesem Spiel manchen Lachern der Kragen schon gewaltig eng wird, da sie stärker in die ablaufenden Ereignisse involviert sind, als sie es wahrhaben wollen. Gänzlich unaufdringlich wird von Fries immer wieder der Name Roncalli in Erinnerung gebracht, der nicht nur für den berühmten Zirkus steht, sondern sich anlehnt an den bürgerlichen Namen von Papst Johannes XXIII. Der hatte sich - wie es Tradition ist - mit Antritt seines päpstlichen Amtes einen Decknamen zulegen müssen. Auch er, wenn man so weit gehen will, ein "Klohn", der zwei Rolle innehatte und aus dem Wissen um beide Existenzweisen die Kraft schöpfte, um im Vatikan für frischen Wind zu sorgen. In seiner Funktion als Stellvertreter war er angetreten, die Kirche zu erneuern. Er war ein Mann, der gern lachte, der aber bereits bei seinem ersten öffentlichen Auftritt auch Anlass zum Lachen gab, denn sein päpstliches Gewand wurde ihm vom Schneider viel zu eng angemessen, so dass seine Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt war. Ein Missgeschick, das er für die "Ketten des Pontifikats" hielt. Der Heilige Vater hatte im wahrsten Sinne die Fesseln zu sprengen, die ihm auferlegt waren, um zu dem zu werden, der sich in der Geschichte einen Namen machte, ohne dass der andere in Vergessenheit geriet. Das gelang ihm offensichtlich auch deshalb, weil es ihm, den man für eine Übergangserscheinung hielt, an Humor nicht fehlte: "Papst kann jeder werden. Der beste Beweis bin ich." Freundschaftlich war er übrigens mit einer anderen, nicht weniger komischen Figur verbunden, dem auf seine Art gläubigen Lenker der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken Chrustschow. Auch der wollte erneuern, verändern und einen Schlußstrich unter Stalins Personenkult ziehen. Große Aufgaben hatte er entworfen, aber auch in diesem weltlichen Amt war es nicht ganz einfach, sich frei zu bewegen und zu verwirklichen, was man kühn erdacht hatte. Auf höheren Beistand konnte er schlecht hoffen, doch den hätte er unbedingt für das erklärte Ziel benötigt, das er auf die schlichte Formel brachte, den Kapitalismus überholen zu wollen, ohne ihn einzuholen. Von dem Vorhaben ist nur die Idee geblieben. Das Vorhaben blieb eine Luftnummer, aber es fehlte an einem Rastelli. So wurde daraus eine Nuance des Roncalli-Effektes: versprochenes Futur, das nicht Präsens wurde und spielt damit wieder in die Sphären hinein, in denen der Beistand von Roncalli notwendig gewesen wäre, da er für die Lösung solcher Aufgaben eventuell über die besseren Beziehungen verfügt hätte. So nah waren sich die beiden Häupter denn doch nicht, Entscheidendes trennte sie. Aus ihren Unterschieden haben sie keinen Hehl gemacht und sich akzeptiert, was für die Beilegung der Kuba-Krise nicht unbedeutend war. Manchmal kommt zusammen, was so gar nicht zusammen gehört. In diese Richtung, die Fries da eröffnet, darf man getrost weiterdenken.

Das Buch handelt im weiteren Sinne vom Gelingen und Weiterwirken von Ideen, von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, sie zu realisieren. Der Roman von Fries entwirft ein Zirkusmilieu, das weiter reicht als die Manegenbegrenzung. Alles ist Vorstellung. Aber man braucht sich nicht nur vorzustellen, dass bei der Vorstellung, die als Zeitenlauf gegeben wird, manche unfreiwillig mitspielen, ohne dafür jemals engagiert worden zu sein. Ihnen zur Seite die wirklich komischen Talente, die ernsthaft und mit Überzeugung dabei sind, die sich in einem ganz realen Wirklichkeitsbereich wähnen, und annehmen, dass das, was läuft, logisch, geplant und vor allen Dingen nach den Maßstäben der Vernunft geschieht. Die Bedeutungsnuancen, die Fries offensichtlich macht, die verschiedenen Clownsnummern, die er vorstellt, zeigen Historie im Zirkusgewand, die in der fein dekorierten Manege durchschaubar wird in ihrem Verlauf, der trotz angestrengtem Wollen manch zufällig erscheinende Wendung deutlich werden läßt. Alles scheint bei dieser Vorstellung möglich, auch das einer unschuldig ist, obwohl alles gegen ihn spricht, und dem es erst im Bekenntnis zu seiner eigenen Schuld, die sich unterscheidet von den Anschuldigungen, gelingt, zu sich selbst zu finden.

Dieser Aspekt reicht in die Biographie des Autors hinein, die hier verdeckt mit zur Disposition steht. Fries hat sich aus dem von ihm inszenierten clownesken Historienreigen nicht herausgenommen. Vielmehr ist er seiner literarischen Figur sehr nahe, die, einst mitgeschwommen auf einem schlingernden Narrenschiff, nun schreibend versucht, wieder das innere Gleichgewicht zu finden. "Schreiben ist die Flucht nach einem Verrat im Leben, ist die Befreiung von den anderen, die bekanntlich die Hölle sind. Was dabei herauskommt, ist vielleicht eine Begegnung mit mir selber", resümiert August Augustin, der mit dieser Ansicht wohl auch die Überzeugung seines Autors teilt, der angesichts der erzählten Geschichte auch über seine eigene Verwerfungen sinniert, und sich vorbehält - darin seiner literarischen Figur ähnlich - sich selbst zu be- und auch zu verurteilen, aber nicht sich richten zu lassen. Bei dieser Positionsbestimmung wird die Distanz zu von außen aufgestellten Maximen offensichtlich. Wie gerecht oder selbstgerecht er dabei verfahren ist, soll hier nicht gemutmaßt werden. Vielversprechender scheint mir die Debatte zu sein, die Fries mit seiner Romangeschichte eröffnet, in der es um Schuld, Verantwortung, um Beteiligtsein geht. Die Geschichte kann einem das eigene Leben kräftig durcheinander wirbeln. Manchmal so, dass einen Zweifel befallen, ob es wirklich das ist, was man gelebt hat. Wenn kaum noch auszumachen ist, ob sie noch die eigene Signatur tragen, spätestens dann scheint es angebracht, danach zu fragen, woher der Wind weht.

Fritz Rudolf Fries: Der Roncalli-Effekt. Gustav Kiepenheuer Verlag. Leipzig 1999, 254 S., 35,- DM

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