Das Beieinander der Teile

Ende einer Odyssee Die Berliner Akademie der Künste hat ein Walter-Benjamin-Archiv eingerichtet

Die Texte des jüdischen Literatur- und Kulturkritikers Walter Benjamin finden nicht nur wegen des Hinweises, es komme darauf an, den "Pessimismus zu organisieren", weiterhin Beachtung. Auch seine Überlegung, den Fortschritt in der Katastrophe zu definieren, "dass es so weiter geht, ist die Katastrophe", hat einen Anteil daran, dass sein Denken als gegenwärtig angesehen wird. Auf solche, die Jetztzeit entlarvenden Formulierungen, stößt man immer wieder bei der Lektüre von Benjamins Schriften, der in seinen späten Arbeiten versucht hat, den Marxismus mit dem Messianismus zu verschränken.

Der Name Walter Benjamin ist auch zum Begriff geworden, weil sich in seinem Leben die Katastrophen des 20. Jahrhunderts spiegeln: nach Flucht und Exil endet seine "Schicksalsreise" 1940 mit Selbstmord in dem kleinen pyrenäischen Grenzort Port Bou. Das Motto, das Benjamin der von ihm 1936 herausgegebenen Sammlung Deutsche Menschen vorangestellt hat, liest sich wie ein Lebensresümee: "Von Ehre ohne Ruhm / Von Größe ohne Glanz / Von Würde ohne Sold."

Viele Projekte des wohl wichtigsten Literaturkritikers der Weimarer Republik, erinnert sei an das Passagen-Projekt, blieben Fragment und geplante Bücher, wie die Berliner Kindheit, konnten zu seinen Lebzeiten nicht erscheinen. Über dieses Buch, an dem er mehrere Jahre gearbeitet hat, und von dem eine weitere, bisher unbekannte Fassung existiert, hat Benjamin gesagt: "Der Wert des Buches, sofern es einen hat, besteht gerade hier im Beieinander der einzelnen Teile." Gerade das "Beieinander der einzelnen Teile" hat nicht nur im Hinblick auf die Berliner Kindheit, sondern gerade auch in Bezug auf die Benjaminschen Werkausgaben immer wieder Fragen aufgeworfen; denn so verdienstvoll eine noch von Theodor W. Adorno besorgte Ausgabe seiner Schriften von 1955 war, sie vermittelte mit der Konzentration auf den frühen Benjamin ein eher einseitiges Bild.

In der jüngsten Vergangenheit ist Benjamins Name erneut ins Gespräch gekommen, weil auf Initiative des Vorsitzenden der Hamburger Stiftung für Wissenschaft und Kultur, Jan Philipp Reemtsma, 2004 in der Akademie der Künste ein Walter-Benjamin-Archiv eingerichtet wurde. Reemtsma hatte den Erben von Benjamins Sohn Stefan den Nachlass abgekauft und so die Basis dafür geschaffen, dass drei wichtige Teilnachlässe wieder zusammengeführt werden konnten. Es handelt sich einmal um jene Unterlagen, die Benjamin bei seiner Flucht aus Paris 1940 in seiner Wohnung zurücklassen musste und die in die Hände der Gestapo gerieten. Diese Materialien wurden 1945 nicht - wie sonst üblich - vernichtet, sondern konnten gerettet werden und fielen der sowjetischen Armee in die Hände, so dass sie zunächst nach Moskau kamen, 1957 nach Potsdam und dann an die Ostberliner Akademie der Künste gelangten. Gerade dieser Teil des Nachlasses geriet in den siebziger und achtziger Jahren zwischen die Fronten des kalten Krieges. Denn den Frankfurter Herausgebern von Benjamins Gesammelten Schriften, einer Edition, die 1972 begonnen wurde, war der Ostberliner Nachlass erst 1983 zugänglich, was dazu führte, dass der ursprüngliche Plan der Ausgabe nicht aufging und es zu einer Reihe von Nachtrags- und Ergänzungsbänden kam.

Das war aber nicht der einzige Grund dafür, dass die Gesammelten Schriften noch während ihres Erscheinens veralteten. Giorgio Agamben entdeckte 1981 in der Bibliothèque Nationale in Paris einen Koffer mit Schriften Benjamins, darunter die Fassung letzter Hand der Berliner Kindheit, den Georges Bataille dort vor den deutschen Besatzern versteckt hatte, so dass auch dieser Text in der Ausgabe der Gesammelten Schriften nur nachgereicht werden konnte. Diese beiden Nachlassteile gelangten im vergangenen Jahr zusammen mit dem Teil, der sich im Besitz von Theodor W. Adorno in Frankfurt am Main befand, nach Berlin, nachdem 1996 zunächst der Ostberliner Teil nach Frankfurt am Main gegangen war. Es war das Ende einer Odyssee. Im Unterschied zum Autor, dessen Grab sich auf keinem jüdischen Friedhof in Berlin findet, haben die Schriften Benjamins in seine Geburtsstadt zurückgefunden.

Zugleich wurden mit der Einrichtung des Archivs ungleich bessere Voraussetzungen für die Benjamin-Forschung geschaffen. Erste Erträge der Arbeit wird man 2006, spätestens aber im Frühjahr 2007 in den Händen halten können, wie Jan Philipp Reemtsma am 30. Mai auf einer Pressekonferenz in der Akademie der Künste mitteilte, denn dann wird der erste Band einer auf 20 Bände konzipierten kritischen Ausgabe der Werke und des Nachlasses im Suhrkamp Verlag erscheinen, die Christoph Gödde und Henri Lonitz als Gesamtherausgeber verantworten. Nach zehn Jahren soll das ehrgeizige editorische Projekt abgeschlossen sein.

Diese Ankündigung war insofern eine Überraschung, weil die noch unter der Mitarbeit von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno und von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser herausgegebene Ausgabe der Gesammelten Schriften erst 1999 abgeschlossen wurde. Immerhin versammelt sie Benjamins Texte in sieben Bänden, was 14 Teilbänden entspricht, und drei Supplement-Bänden, so dass sich auf 5200 Druckseiten nachlesen lässt, was Benjamin geschrieben hat, und 2.600 Seiten wissenschaftlicher Apparat bieten eine Hilfestellung, sich in diesem komplexen, aber auch faszinierenden Œuvre zu orientieren. Damit war zu einem ersten Abschluss gekommen, was Benjamin, dessen Wahlverwandtschaften-Essay mit dem Satz endet, "nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben", selbst nicht zu hoffen wagte: "Für jemanden, dessen Schriften so zerstreut sind wie meine und dem die Zeitumstände die Illusion nicht mehr gestatten, sie eines Tages gesammelt zu sehen, ist es eine wahre Bestätigung, hier oder dort einen Leser zu wissen, der in meinen verzettelten Arbeiten sich auf irgendeine Art heimisch zu machen gewusst hat." Zwar nannte Benjamin seine Arbeiten "verzettelt", erwähnte aber gleichzeitig, dass es dafür objektive Gründe gab und es nicht fehlender Konzentration auf das Wesentliche geschuldet war.

Die Ausgabe der Gesammelten Schriften war bereits früh wegen des eigenwilligen "Beieinanders der Teile" - Benjamins Werk wurde nach thematischen Gesichtspunkten gegliedert - kritisiert worden. Auch wenn Reemtsma auf der Pressekonferenz keinen "sensationellen Fund aus dem Archiv herausnehmen und hochhalten" konnte, allein die Tatsache, dass es eine neue Benjamin-Ausgabe geben wird, war eine Überraschung. Zugleich aber stellt sich die Frage, für welches "Beieinander der Teile" sich die Herausgeber entschieden haben. Eine Neuausgabe der Texte Walter Benjamins wird es sich gefallen lassen müssen, dass man sie mit der alten vergleicht und danach fragt, ob die Mängel dieser Ausgabe revidiert und neue Fehler vermieden worden sind; denn per se bietet eine neue Ausgabe noch keine Garantie dafür, dass nicht bereits im Vorfeld die Weichen falsch gestellt wurden.

Nach Aussage von Henri Lonitz wird es sich um eine kritische Ausgabe handeln, die nicht aus "dicken Bänden" bestehen wird, denn man hat sich entschieden, die Bücher, die Benjamin zu Lebzeiten selbst veröffentlicht oder zur Veröffentlichung vorgesehen hat, in jeweils einem Band zu präsentieren. Weiterhin sollen alle Stücke, die zu dem jeweiligen Buch gehören im Hauptteil und nicht im Kommentarteil - wie in der alten Ausgabe - zum Abdruck kommen. Nach Abschluss der kritischen Ausgabe soll alles, was Benjamin geschrieben hat, in der Ausgabe zu finden sein. Auch seine Notizhefte werden veröffentlicht, so dass es möglich sein wird, sich in der Ausgabe wie in einem Privatarchiv zu bewegen. Diese Ausgabe wird nach Ansicht der Gesamtherausgeber die Gewähr dafür bieten, "ein Bild vom Schriftsteller und Philosophen Benjamin" zu bekommen. Doch ein solches Bild, das muss hinzugefügt werden, existiert bereits, was eine kommentierte Bibliographie von Markner/Weber sehr eindrucksvoll dokumentiert. Um nur einige Aspekte zu nennen: In den letzten Jahren war die Forschung gerade darum bemüht, Zusammenhänge und einzelne Motive des Werkes zu erschließen, sie hat beispielsweise auf die Bedeutung des frühen Sprachaufsatzes von 1916 für das Gesamtwerk aufmerksam gemacht und auf die Verschränkung von Benjamins theoretischen Arbeiten mit seinen schriftstellerischen verwiesen, und somit gerade jene Beziehungen erhellt, die durch die Ausgabe der Gesammelten Schriften eher verdeckt wurden.

Weil dieser eigenwillige und originäre Denker seine theoretischen Überlegungen in ganz verschiedenen Texten erprobt hat, beispielsweise neue Forschungsansichten in literarischen Kritiken durchspielte - der Flaneur taucht nicht nur im Entwurf zum Passagen-Projekt, sondern zeitlich parallel auch in der Kritik zu Hessels Spazieren in Berlin auf -, wäre angesichts der existierenden Ausgabe und des beachtlichen Forschungsstandes auch eine chronologisch angelegte Ausgabe der Schriften denkbar gewesen. Sie hätte sehr viel stärker einen Eindruck von der Gleichzeitigkeit bestimmter Denkansätze vermitteln können. Doch gegen eine solche Ausgabe gab es, laut Reemtsma, Argumente, weil sich "Heterogenes, was durch die bloße Kontingenz des Lebens zusammengebracht wurde, nicht aus einer inneren Werklogik" erklären lässt. Die chronologische Ausgabe hätte, so Reemtsma weiter, für den "Benjamin-Kenner, den Benjamin-Leser, der alles von Benjamin will, der sich vor allem nur für den Autor als Autor interessiert, einen großen Reiz. Für den Benutzer, der sagt, mich interessieren Teile des Werkes, mich interessieren die philosophischen Partien oder mich interessieren vornehmlich die ästhetischen Partien, für die ist das eine absolute Zugangssperre. Eine solche chronologische Ausgabe, wenn sie denn möglich wäre, wäre nur etwas für einen Insiderkreis und das, denke ich, wäre ein publikationsstrategischer Fehler".

Ob die neue Ausgabe publikationsstrategisch ein Erfolg werden kann, wird sich genauer sagen lassen, wenn der erste Band vorliegt. Doch da der Zugang zu Benjamins Werk wohl nicht in erster Linie über eine kritische Werkausgabe erfolgt, sondern eher über die Vielzahl von bereits existierenden Einzelpublikationen und der auch als Taschenbuch erhältlichen Ausgabe Gesammelten Schriften, stellt sich weiterhin die Frage, ob dem "Insiderkreis" mit einer chronologischen Ausgabe nicht mehr gedient gewesen wäre. Vom Tisch wird sie erst sein, wenn die kritische Ausgabe gerade dadurch zu überzeugen weiß, dass das "Beieinander der Teile" bei der Erschließung des Benjaminschen Werkes nicht nur hilfreich ist, sondern bisher nicht wahrgenommene Aspekte seines Denkens eröffnet.

Michael Opitz ist Mitherausgeber der Bände Benjamins Begriffe, die 2000 im Suhrkamp Verlag erschienen.


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