Die Bewohner der Randbereiche

Nachfahre Woyzecks Der Büchner-Preis 2002 für Wolfgang Hilbig

Zu einem Zeitpunkt, als man von Wolfgang Hilbig, der am 26. Oktober den diesjährigen Büchner-Preis in Empfang nimmt, nichts in der DDR lesen konnte, weil sich kein Verlag fand, der seine Texte publizieren wollte, hat Franz Fühmann in einer "imaginären Rede" auf einen damals abwesenden Dichter aufmerksam gemacht. Anlass war der 1979 nur im Westen erschienene Gedichtband abwesenheit, in dem es heißt: "wie lang noch wird unsere abwesenheit geduldet". Mit seiner Biografie hätte Hilbig jenen Vorzeigeliteraten abgeben können, in dessen Hand die Kulturverwalter gern die Feder gesehen hätten, zu der der Kumpel in der DDR greifen sollte. Aber jedes Gedicht dieses im Osten nicht verlegten Bandes zeigt Hilbig als einen sprachmächtigen Dichter, der diesem Staat, als dieser sich noch im Blühen begriffen sah, bereits das Totenlied gesungen hat, weshalb man meinte, auf Hilbigs stimmliche Anwesenheit im sozialistischen Literaturensemble verzichten zu können.

Inzwischen ist Hilbig, der 1985 die DDR verließ, so präsent, wie es Fühmann vorschwebte - vielleicht mit einer Einschränkung. Der Laudator wünschte dem Land einen Dichter, der ihm Schwierigkeiten bereiten sollte. Doch nun, wo Hilbigs Texte greifbar sind, hat sich das Staatsgebilde verflüchtigt, das ihn prägte, das aber nicht veröffentlicht sehen wollte, welche Texturen aus dem Zwiegespräch zwischen dem heizenden Dichter und der Gesellschaft hervorgegangen sind. Dieser Dissens besteht heute nicht mehr. Geübt im Umgang mit Querdenkern herrscht hier zu Lande große Gelassenheit, wenn sich Widersprecher mit Veränderung einklagenden Texten zu Wort melden. So erschrickt heute niemand, wenn Hilbig von der "sinnvollen Errichtung einer möglichst klassenarmen Gesellschaft" spricht, die für ihn allein "zureichender Grund für die endlose Verlängerung des Lebens" wäre. Und so darf man mutmaßen, dass selbst der Verfasser des Hessischen Landboten heute nur die lange Leine des Marktes, nicht aber Zensur zu fürchten hätte.

Mag gelegentlich bei Preisverleihungen die Kluft zwischen Namenspatron und Geehrtem unverhältnismäßig groß sein, die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung hat mit der Entscheidung, Wolfgang Hilbig den Büchner-Preis zuzuerkennen, eine Beziehung zwischen beiden Autoren hergestellt, die keiner Konstruktion bedarf. Sie ehrt einen Dichter, der, darin ein Wahlverwandter Büchners, nach der entrechteten, der fehlgeleiteten, schwachen, verführbaren Kreatur fragt, der sich in der "Latrinenlandschaft" um die "Würde der Gattung Mensch" kümmert, wie es Fühmann formuliert hat.

Hilbigs Figuren sind Nachfahren Woyzecks, Außenseiter, Verlierer, die, in quälender Enge befangen, auf der Suche nach einem erfüllten Leben sind, aber unbehaust bleiben. In schäbigen, abgewirtschafteten, vom Verfall geprägten Landschaften fristen sie ihr Dasein, siedeln in Kellern, verdingen sich als Heizer, existieren in Abrisshäusern. Es sind Bewohner der Randbereiche, die die Zentren der Aufmerksamkeit fliehen. Sie führen ein Schattendasein und sind - wie der Heizer H. in der Erzählung Der Heizer - so verstrickt in die Zumutungen des Daseins, dass alle Versuche, sich aus den Fesseln zu befreien, zu immer neue Verstrickungen führen. Oder sie tasten sich - wie der Ich-Erzähler in der Erzählung Alte Abdeckerei - in Erinnerungslandschaften vor, und finden sich auf einem Weg wieder, der sie im Realen in eine von Abfall und Gift zerfressene Natur führt, wo Bäume an einem süßlich stinkenden Fluss faulen, der angefüllt von Talg und Fett schwarz schillert. Dieses Paradies für Schmeißfliegen wird für den Erzähler zu einem Vexierbild. Im Ausschreiten des realen Raumes eröffnet sich ihm ein Erinnerungsraum, wird der verlassene Winkel, in den sich die Industrie zerstörerisch eingeschrieben hat, zu einem Abbild für Auslöschungsverfahren. Wörter wie Gleisanlage, Rampe, Massengräber, Abdeckerei legen eine Spur, die den Erzähler zur Abdeckerei Germania II führen, aber er ruft dabei im Eingedenken Erinnerungsorte deutscher Verbrechen auf.

Nicht minder apokalyptisch ist die Landschaft in Die Kunde von den Bäumen. Hier ist es der Müllplatz, der metaphorische Bedeutung erlangt. Waller, die zentrale Figur der Erzählung, flieht aus einer Gesellschaft, die ihre Grenzen geschlossen hat, an den Rand, dort wo der Abfall gelagert wird. Aussicht darauf, die Grenze des Landes überschreiten zu können, hat er allein, wenn er sich zu einem unbrauchbaren Stück innerhalb dieser Gesellschaft macht. So erhält die Müllkippe nicht nur zentrale Bedeutung, sondern, indem sie Hilbig aus ihrer vermeintlichen Randlage ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, wird sie zu einem Ort von symbolischer Bedeutung. Während in den Zentren der Bewegung Stagnation herrscht, wird der Müllplatz zum Ort der Auseinandersetzung. Die im Müll Wühlenden suchen nach den bewahrenswerten Resten, danach, was in den Verwertungsgeschäften unter den Tisch gefallen, aber noch nicht entwertet ist.

Wolfgang Hilbig ist ein Autor, der Sprache als ästhetisches Material betrachtet, das erst in der Bearbeitung zur Form findet. Er verfügt in seinen lyrischen wie erzählenden Texten über ein Ausdrucksvermögen, das gegenwärtig nicht sehr vielen seiner Kollegen zur Verfügung steht. Der Widerstand, der da mit und in der Sprache geleistet wird, die Sorge um die Sprache, "deren Sterben um sich greift", hat Hilbigs Sprache nicht hart im Ton, sondern sehr filigran, geradezu zerbrechlich werden lassen. In seinem letzten Gedichtband Bilder vom Erzählen sind die monologischen Reden des lyrischen Ich gerade deshalb von solcher Intensität und Eindringlichkeit, weil es so leise spricht. So sind Wortgebilde entstanden, die bis an die Grenze gehen, bis zum Verstummen. Der Chasseur im Walde, nach den verlorenen Schlachten, hat den Raben, den Todesvogel, an seiner Seite.

Glückwunsch an einen anwesenden Autor, den wir immer noch nicht kennen, mit dem wir erst am Anfang eines Gesprächs sind, dem Dauer zu wünschen bleibt.

Die Bücher von Wolfgang Hilbig werden im S. Fischer Verlag verlegt. Aus Anlass der Büchner-Preis Verleihung hat der Verlag eine Sammlung wichtiger Erzählungen als Taschenbuch herausgebracht. Für das Frühjahr 2003 ist ein neuer Erzählungsband von Wolfgang Hilbig mit dem Titel Der Schlaf der Gerechten angekündigt

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