SINN DES LEBENS In seinem neuen Roman »Das Wirklichgewollte« fragt Volker Braun nach den verworfenen Möglichkeiten der Geschichte und den Widersprüchen des privaten Lebens
Das Nichtgelebte nennt Volker Braun die 1993 entstandene Erzählung, die in dem nun als Taschenbuch vorliegenden Band Trotzdestonichts oder Der Wendehals erschienen ist. Und der jüngste, drei Erzählungen vereinende Band heißt Das Wirklichgewollte. Die beredten Titel eröffnen eine Spannung zwischen Texten, die miteinander korrespondieren. In ihnen wird die Frage aufgeworfen, was im Leben gewollt und was von den Wünschen realisiert wurde. Tragisch ist es, wenn das »Wirklichgewollte« als verschenkte Möglichkeit erinnert wird, wenn es ungelebt geblieben ist, wenn es als »Nichtgelebtes« wie ein Schatten über dem Wirklichen liegt.
Der topographische Ort, an dem Volker Braun die Erzählung Das Nichtgelebte ansiedelt, ist ein mit Bedeut
ichtgelebte ansiedelt, ist ein mit Bedeutung aufgeladener wirklicher Raum, ein Erinnerungsraum, der sich als geeigneter Schauplatz für zwei Handlungsebenen mit ähnlichen Strukturen erweist. Unschwer ist hinter dem »riesigen Platz«, den Volker Braun als erzählerischen Raum nutzt, der Alexanderplatz zu erkennen, der seine unförmige Gestalt bekam, als man ihn für »irgendeinen gewaltigen Aufmarsch eines riesenhaften Volkes in seiner veranschlagten Emphase« umbaute. Der Platz wurde zum Sinnbild einer friedlichen Revolution, als sich auf ihm eine auf jegliche Gewalt verzichtende Menge mit »ungeheuren Transparenten« versammelte, um einer selbstherrlich regierenden Alt-Herrenriege den Satz: »Wir sind das Volk« ins Poesiealbum der Politik zu schreiben. Es war das Motto eines Neubeginns und einer Grablegung, Ouvertüre und Abgesang zugleich.Nicht zufällig spielt die Geschichte der unglaublichen Demonstration vom 4. November 1989 in Volker Brauns Erzählung eine bedeutende Rolle. Sie ist mehr als der historische Hintergrund für die unerfüllt bleibende Liebesgeschichte zwischen Georg und Luise. Der Platz unter der Weltzeituhr ist für Georg Anlass, den vergangenen Geschichten, die unvergesslich zu seinem Leben gehören, erinnernd nachzugeben. Anfangs hatte er in seinem Verhältnis zu Luise Zurückhaltung walten lassen. Selbst als sie sich ihm noch so verführerisch anbietet, lässt er ihr Zeit, bis beide wollen, was einseitig vollzogen einer Vergewaltigung gleich käme. Der Höhepunkt der gewollten Umarmung bleibt ihm als Glücksgefühl unvergessen. Doch was so hoffnungsvoll mit beiden begann, setzen sie nicht fort. Einer möglichen Dauer räumen sie keine Zukunft ein, und so bleibt ungelebt, was an gemeinsamem Leben möglich gewesen wäre. Georg weiß am Ende der Beziehung, was er nicht ernsthaft genug gewollt hat. Diese sehr intime Geschichte einer Zweisamkeit hat Gleichnischarakter. Denn die gescheiterte Beziehung zwischen Georg und Luise bekommt vor dem Hintergrund des Verschwindens der DDR verweisende Bedeutung.Volker Braun spiegelt die intime Beziehung zwischen den Liebenden in den Ereignissen der Wende, ohne im Verweisen vordergründig zu werden. Der Umbruch, der mit der Demonstration auf dem Alexanderplatz einen Höhepunkt erreichte, wird zugleich zum Ausgangspunkt einer Trennung. Die an diesem Tag zueinander fanden, waren erfüllt vom Gefühl ihres Triumphes und beließen es bei dieser Demonstration von Zusammengehörigkeit. Für einen Moment fühlten sie sich miteinander verbunden, genossen sie den glücklichen Augenblick, bis sie sich für einen Weg aussprachen, wodurch andere sich als unbegehbar erwiesen. Volker Brauns Erinnerungsarbeit fragt nach Möglichkeiten, nach den Chancen, die glückliche Augenblicke haben. Er spielt erzählend durch, wie es sich mit den Erinnerungen an die Momente lebt, die einzigartig, aber chancenlos geblieben sind, die keine Kraft hatten, sich durchzusetzen. Das Nichtgelebte wird von Volker Braun erinnert als eine verworfene Variante möglicher Zukunft. Als Uneingelöstes drängt es sich mit bohrender Schärfe in den Vordergrund, wenn das Gelebte seine Mängel offenbart und als Folge im real Gegenwärtigen begonnen wird, nach dem möglich Zukünftigen zu suchen, wenn durch die Verhältnisse die Frage aufgeworfen wird, ob die gelebten die wirklichgewollten sind.Was das Wirklichgewollte nun sein könnte, untersucht Braun in dem gleichnamigen Erzählungsband in drei Geschichten, die an gänzlich verschiedenen Schauplätzen angesiedelt sind. Zur Disposition stehen Lebenskonzepte, die auf ihre Dauerhaftigkeit und damit ihre Gültigkeit hin geprüft werden. Den Texten liegt ein ähnliches Kompositionsprinzip zugrunde. In unerwarteter Härte lässt Volker Braun die Fremde in Lebensbereiche einbrechen, die dadurch herausgefordert werden, wobei als Frage auftaucht, ob es gelingen kann, einen privaten Bereich gegen einen aus den Fugen geratenen öffentlichen dauerhaft abzuschirmen. Es geht um nichts weniger als ums Überleben, darum, welchen Sinn das Leben hat und haben könnte.In der ersten Geschichte, die in einer italienischen Landschaft spielt, wird das Ehepaar Baldini von einem jungen Pärchen, Flüchtlingen aus Albanien, überfallen, die verwüstend in den geordneten Haushalt einbrechen, aus dem sie dennoch nicht verwiesen werden. Nicht die Überfallenen wenden Gewalt an, um sich zu schützen, sondern der Eindringling verletzt den Alten mit einem Messer. Der Schluss der Erzählung lässt offen, ob der Angreifer vielleicht als Helfer zu seinem Opfer zurückkommt - wenn da nicht ein merkwürdiges und beunruhigendes Grinsen im Gesicht des Fremden wäre.Unvergleichlich härter prallen die sozialen Verhältnisse in der zweiten Geschichte aufeinander, die in der sibirischen Einöde spielen. In den Hütten kein Glanz. Bereits bevor die Wohnungen Geld kosteten, war das Auskommen in diesem Landstrich bescheiden. Einst wenig Geld, aber viel Ehre, nunmehr weder das eine noch das andere. Da ist die Verheißung auf ein warmes Bad ein hinreichender Grund, den Ehemann zu betrügen, der inzwischen mit seinem Neffen die Gleise abläuft, die in eine lichte Zukunft führen sollten, sich aber nun im Nichts verlieren. Ziellos säuft sich die Jugend durch das Leben, keiner Idee mehr trauend, die von den Vätern erdacht wurde. Zu wacklig der Grund, das Gelände haltlos wie die Versprechungen - zu wenig Jetztzeit, um in der Bahn zu bleiben. So scheint die Nachhilfestunde in Sachen Sinnfrage des Lebens zu missglücken. Braun lässt die Widersprüche aufeinander prallen, ohne zu vermitteln.Auch in der Erzählung über den neunjährigen Jorge stehen sich Welten unvereinbar gegenüber. Der Straßenjunge flieht die Gastlichkeit eines alten Mannes und sucht die zweifelhafte, aber ihm vertraute Freiheit der Straße, die er nicht gegen eine Sicherheit eintauschen will, die ihn zum Objekt machen könnte. Enttäuscht zieht der Alte für sich einen Schlussstrich unter das Jahrhundert, dem er nicht mehr zu helfen vermag, denn »es war alles probiert. (...) Und nachdem alles gewesen war, und keine Hoffnung geblieben war, war die Frage: was kommt?« Dieser Ungewissheit geht Volker Braun in seinen Geschichten nach, tastend, aber unbeirrt in seiner Erkenntnisarbeit, bei der die Widersprüche nicht zugedeckt, sondern aufgerissen werden, um die wirklichen Zustände zu zeigen: die nicht zu beschönigen sind, sondern die schroff, hart und unerbittlich dargestellt werden. Volker Braun erhält den diesjährigen Büchner-Preis. Er wird ihm auch zugesprochen, weil er über das Elend schreibt, wo immer es sich zeigt, ob es nun in Hütten wohnt oder in Palästen. Er will darüber nicht hinwegsehen und versucht, unbeeindruckt von allen geschichtlichen Ironien, in seiner Dichtung den Ort auszumachen, »wo Leben keine Schande wäre«.Volker Braun: Das Wirklichgewollte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 55 S., 28,- DM.Volker Braun: Trotzdestonichts oder Der Wendehals. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 150 S., 13,90 DM
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