Es muss der Traum eines jeden Kartographen sein, wenigstens einmal eine Karte im Maßstab 1:1 erstellen zu können, denn auf der - so sollte man meinen - ließe sich dann die Wirklichkeit wiederfinden, noch dazu maßstabgetreu. Natürlich wäre eine solche Karte eine Zumutung, was den Gebrauchswert in der Gegenwart anbelangt. Aber als historisches Dokument hätte sie einigen Wert, auch wenn sie nur ein Teil des Gewesenen repräsentieren würde. Sie wäre zumindest äußerst hilfreich bei jeglicher Spurensuche in den Winkeln der Geschichte, die doch häufig schwierig zu ergründen sind. Zumindest die Orientierung würde dadurch erleichtert sein, denn es wäre ja alles verzeichnet, alles, bis auf die Geschichten, die zu den Ding
ingen gehören. Die würden auch weiterhin der Interpretation bedürfen. Aber immerhin, Pilgerfahrten führten nicht mehr ins Ungefähre, sondern mit Sicherheit dorthin, wo sich historisch Bedeutendes ereignet hat, wo der Boden voller Geschichte steckt. Was wäre das für ein Gewinn im ständigen vergeblichen Umwenden nach dem, was sich in der Vergangenheit ereignet hat: eine solche Karte könnte ein verlässlicher Führer sein. Aber wäre sie auch ein Garant für Finden und Ankommen?Vielleicht hätte eine solche Karte auch gute Dienste im Falle der Wenden leisten können, jenem Volk, das vor über tausend Jahren in der Mark Brandenburg siedelte, und das eines Tages beinahe spurlos von der Bildfläche verschwand. Doch Reste wendischer Kultur existieren noch, wie einem durch den archäologischen Spürsinn mitgeteilt wird, der Olaf Gruber auszeichnet, den Helden aus Jens Sparschuhs neuem Roman Eins zu eins. Als Angestellter der Firma »andersWandern« unternimmt er eine Expedition ins märkische Land - eigentlich, um seinen verschwundenen Mitarbeiter Wenzel zu suchen, von dem vermutet wird, er wäre Rethra, dem sagenhaften Heiligtum der Wenden, nicht nur auf die Spur gekommen, sondern hätte den Ort schon so gut wie gefunden. Aber wer auf der vermeintlich richtigen Spur ist, kann sich dennoch verlaufen. Natürlich wäre es eine Sensation, würde Rethra gefunden werden. Die ließe sich in jedem Touristenführer trefflich vermarkten, selbstverständlich auch in einem des Konkurrenzunternehmens Chaos-Reisen, das mit Wenzels Verschwinden in Zusammenhang gebracht wird.So wird Wenzel nicht anders als die Wenden zum Fall, bei dem es Sparschuh aber nicht bewenden lässt, denn das Ganze spielt in Nachwendezeiten. Wenn Gruber Wenzel finden will - und das wird für ihn nicht zu einer Allerweltsaufgabe, sondern zu einer Herausforderung, von der seine Existenz abhängt - dann muss er hinter das Geheimnis der Wenden kommen, muss er sich in die Geschichte dieses Volkes vertiefen. Aber gleichzeitig darf er Wenzel, den einen, nicht aus dem Auge verlieren, der es dem ihm Nachfahrenden Gruber durchaus nicht einfach macht, denn es bedarf einer gewissen Lesefähigkeit, um Wenzels Zeichen und die der Wenden zu verstehen.Doch bei dieser Spurensuche, die Olaf Gruber überwiegend in der Mark Brandenburg unternimmt, trifft er auf etwas, was er gar nicht gesucht hat, nämlich jene merkwürdigen Zeitgenossen, die im Osten siedelten, als der noch DDR hieß, und denen es durch die Wende wie den Wenden zu ergehen scheint: zwar taumeln sie noch ein wenig unentschlossen zwischen dem Einst und dem Jetzt und wissen nicht so recht, wie sie es mit der neuen Zeit halten sollen, aber bald werden sie wohl verschwunden sein. Was bleibt von ihnen? Was wird auf späteren Karten von dieser aussterbenden Spezies zu finden sein?Der gebürtige Karl-Marx-Städter Jens Sparschuh ist vertraut mit Orten, die von den Landkarten verschwunden sind, denn Karl-Marx-Stadt heißt wieder Chemnitz und Leningrad, wo er einst studierte, inzwischen wieder Petersburg. Sparschuh erzählt von einer Expedition in die Geschichte, aber er erzählt auch vom Wiederkehren, vom nicht Vergehen, denn Namen sind nicht Schall und Rauch. Die Wenden, die einst von Osten kamen, sie siedeln schon wieder im inzwischen entsiedelten Land und nehmen es ganz friedlich in Besitz. In Werske trifft Gruber auf den Kasachen Schuhmann, der in dem verlassenen Ort, seiner alten neuen Heimat, mit der Harke anfängt den Boden zu bearbeiten - vorerst nur um für Ordnung zu sorgen.Der ist nicht der einzige bunte Vogel, der Gruber bei seiner Suche über den Weg flattert. Er trifft auch auf andere merkwürdige Zeitgenossen, die nicht finden, was sie suchen, und das, obwohl sie im Besitz aller notwendigen Details sind - es will sich nicht zu einem sinnvollen Ganzen fügen, was sie zusammentragen. Da ist der Eigenheimbauer, dem es nach der Wende nicht gelingt, aus seiner Bauruine ein Haus zu machen, obwohl es doch jetzt alles gibt, woran es ihm vorher fehlte. Nur hat er jetzt kein Geld mehr. Oder der Mann aus Hamburg, der bei der Suche nach der wahren Geschichte seiner Herkunft, die im Osten liegt, im Dorf seiner Kindheit niemanden trifft, der sich erinnern will. Und der eine, der seine rekonstruierte Geschichte beglaubigt, gilt im Ort als der Dorftrottel.Neben den bunten Vögeln, zu denen ohne Zweifel auch Dr. Müller gehört, der ein altes ZK-Erholungsheim zu einer abenteuerlichen Begegnungsstätte für Leute aus Ost und West umgebaut hat, die dort das Fremdeln verlernen sollen, wird Gruber auch von einem schwarzen Vogel begleitet, einem Raben, der den Wenden als Todesvogel galt, ohne dass sich die »pechschwarze Gestalt» verscheuchen lässt - sie behauptet sich. Gruber findet weder Wenzel noch Rethra, denn entscheidende Zeichen hat er nicht zu deuten gewusst. Am Schluss geht er an Krücken. Tief fiel er, als er sich am Ziel wähnte, bekommt so aber wieder Bodenhaftung, denn von oben lässt sich Geschichte nicht ergründen, wie sie sich auch nur bis zu einem gewissen Grade erwandern lässt. Vielmehr muss sich, wer finden will, verhalten, wie jemand der gräbt.Jens Sparschuh ist mit Eins zu eins die Fortsetzung seines erfolgreichen Romans Der Zimmerspringbrunnen gelungen. Nachdem er Hinrich Lobek mit dem umgebauten Zimmerspringbrunnenmodell »Atlantis« in die deutschen Wohnzimmerstuben schickte, bahnt sich nun Olaf Gruber einen Weg durch eine Geschichtslandschaft, der weiter führt, als die Mark Brandenburg reicht und bei der Karten sich als nur bedingt tauglich erweisen. Lobek und Gruber kommen mit falschen Karten an. Zwar verlieren sie, was sie gern behalten hätten, aber finden, was sie nicht gesucht haben. Einfacher ist Geschichte offensichtlich nicht zu haben.Inzwischen sind die schrägen Typen, von denen in Sparschuhs Büchern erzählt wird, zum Markenzeichen des Autors geworden. Aber wie skurril sich die ein wenig neben der Spur laufenden Figuren auch geben, wie abenteuerlich komisch die dazugehörigen Geschichten auch sind und wie verspielt-humorvoll Sparschuh auch erzählt - er bedient nicht das leichte Genre. Vielmehr ist er mit seinen komischen Geschichten der Welt, die es überwiegend ernst mit uns meint, sehr zugewandt. Er lädt dazu ein, sie aus einer Perspektive wahrzunehmen, die sie etwas absonderlich aussehen lässt. Das so entstandene Bild resultiert nicht aus einer Laune des Autors, sondern es ist ihr abgeschaut.Jens Sparschuh: Eins zu eins. Kiepenheuer Witsch, Köln 2003, 428 S., 22,90 EUR
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