Seine Stimme war unüberhörbar. Wenn Adolf Dresen Sonntags mit Freunden aus der Leipziger Studentenbühne an den Lübschitzer Teichen auf Wanderung war, holte er mit wilden Armbewegungen aus seinem Akkordeon alles heraus, was es hergab und vermochte dennoch mit seinem Gesang das Instrument mühelos zu übertönen; wir anderen, vielleicht ebenso musikalisch aber weniger forsch, sangen unter der Deckung seiner Stimme mit. Auch mit größeren Volumina maß er sich. Er konnte keine unbeaufsichtigte Orgel sehen, ohne sich daran zu setzen; dann schmetterte er zu vollgezogenen Registern sein Lieblingslied »Ein feste Burg ist unser Gott« heraus. Zum Diskutieren setzten wir uns gern in Gartenlokale. Ich suchte Randplätze, dennoch trug es sich fast regelmäßig zu, dass an entfernteren Tischen sitzende ältere Damen das Lokal wegen Lärmbelästigung verließen. Befand er sich in einer größeren Gesellschaft, war sein ansteckendes Lachen in jeder Ecke des Raums vernehmbar, es zog wie ein Magnet die Menschen zu ihm hin.
Das dezidierte Reden war Bestandteil der Persönlichkeit des ansonsten fragil und feinnervig beschaffenen Künstlers. Hinter dem, was er äußerte, stand er buchstäblich mit Leib und Seele. Seine Meinung setzte er unmissverständlich in den Raum. Auf diese Weise konnte er sich nicht nur mitteilen, er konnte sich selber an der Reaktion anderer messen und prüfen: Wie eine falsche Note wurde ein morscher Gedankengang auf der Stelle offensichtlich und korrigierbar. Es ging ihm nicht darum, zu überrumpeln, sondern herauszufordern. Sich selbst wie seine Gesprächspartner. Diesem Verhalten entsprach Dresens dem Kantschen Denken entlehnte These von der Urteilskraft des Individuums: der Fähigkeit, sich außerhalb normativer Zwänge - wie Autorität, Zeitgeist, Anpassungsdruck - ein Urteil zu bilden und danach zu handeln. Ohne die eine Persönlichkeit konstituierende Urteilskraft könne man zum willigen Instrument jeder gesellschaftlichen Schweinerei werden, meinte er mit Blick auf die deutsche Vergangenheit - aber nicht nur auf sie. Als Schauspiel-, dann als Opernregisseur legte sein Urteil strenge Maßstäbe and das zu inszenierende Werk. Was seinen Ansprüchen nicht genügte, wurde gnadenlos bearbeitet, um- und neu geschrieben; durch Dresens Eingriffe gewannen die Werke in den meisten Fällen deutlich an Profil, doch blieb er von Urheberechtsprozessen gekränkter Autoren nicht verschont .
So intolerant er gegen das Mittelmäßige war, so intensiv war aber sein Glücksgefühl, wenn er ein Meisterwerk für sich neu entdecken konnte. Dresens Entdeckungslust beschränkte sich nicht auf den Beruf, sie führte ihn nach und nach auf die verschiedensten Wissensgebiete. Als wir uns kennen lernten, war der Student der Germanistik in die Einsteinsche Relativitätstheorie eingetaucht, und verlangte von mir - Physiker damals - einschlägige Erklärungen. Später befasste er sich intensiv mit Problemen der Biologie, der symbolischen Logik, der Wissenschaftstheorie, des Marxismus, der Moral, der Hermeneutik. Es entstanden Schriften zu all diesen Themen, die er mit Freunden zu diskutieren wünschte. In seiner Umgebung wurde jeder zum Denken gezwungen, besser: verführt. Bei wachsendem Missmut mit den Verhältnissen in der DDR bündelte sich sein Interesse an einer schlüssigen Kritik des Marxismus. Mit Leidenschaft verfasste er Dutzende von Analysen des Sozialismus, des Stalinismus und der marxschen Ökonomie, die er ohne konspirative Vorkehrungen unter Bekannten verbreitete und debattierte. Nach der Verhaftung eines Freundes wurden die meisten dieser Arbeiten von den Besitzern vernichtet, einige fanden sich glücklicherweise nach der Wende auf dem Dachboden eines Pankower Pfarrhauses wieder.
Trotz der Theaterskandale, die er 1964 mit Hamlet, 1968 mit Faust 1, 1970 mit Babels Maria und 1971 mit Clavigo hervorrief, empfand Dresen seine gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten als zu mager. Nächtelang erörterten wir in seiner Neubauzelle in Friedrichshain seinen ernsthaften Plan, die Kunst an den Nagel zu hängen und eine neue Laufbahn in der Politik zu suchen. SED-Mitglied war er, und von seiner Fähigkeit überzeugt, die meisten Funktionäre an die Wand zu diskutieren, war er auch. Er traute sich alles zu. Glücklicherweise nahm er von diesem Vorhaben Abschied, sonst hätte ihn womöglich das Schicksal eines Wolfgang Harich ereilt. Wiederholt geriet Dresen in bedrohliche Situationen und wurde von wohlwollenden Menschen aus der Patsche gezogen, manchmal erfuhr er es erst hinterher; zu den Beschützern gehörte sein väterlicher Intendant am Deutschen Theater Wolfgang Heinz, der Kulturminister der DDR Hans-Joachim Hoffmann, der Burg-Theater-Intendant Achim Benning sowie die Frankfurter Stadtväter Walter Wallmann und Hilmar Hoffmann. Dresen hatte oft Glück. Es sei aber an das Sprichwort erinnert: das Glück hilft denen nicht, die sich nicht selbst helfen.
Die Wende verfolgte Dresen am Fernsehschirm in London. Sobald ihn seine Pflichten dort entließen, eilte er nach Berlin, um sich in der Bürgerbewegung einzubringen, knüpfte Verbindungen zwischen dem Neuen Forum und führenden Ökonomen der Bundesrepublik. Er kämpfte verzweifelt, seine auf Grund irgendwelcher Paragraphen verfallene Stimmberechtigung für die Wahlen am 18. März 1990 wiederzubekommen. Im Haus der Demokratie verfolgte er am Wahltag gespannt die Fernsehberichte, nach Bekanntgabe der Ergebnisses erlosch sein Gesicht. Ich sehe ihn noch grau und mit gesenktem Kopf nach Hause gehen.
Unverkennbar trug der in Eggesin Geborene die Prägung seiner vorpommerschen Kindheit. Doch in die norddeutsch-protestantische Askese waren über seinen weintrinkenden Großvater Tropfen rheinischer Lebenslust geflossen. Nicht nur der Geschmack am exzellenten Weißwein des Bopparder Hamm verband ihn mit seiner rheinländischen Gefährtin Anna Mülhöfer, die die letzten neun Jahre seines Lebens begleitet hat.
Dresen war Genießer. Er war es im Brechtschen Sinne: er hatte Spaß an den schwachen (einfachen) und eine rauschhafte Freude an den starken (zusammengesetzten) Vergnügungen. Der wichtigste Faktor der Kunst war nach seiner Auffassung die Lust der Entdeckung, für den Künstler wie für das Publikum. Seine eigenen Arbeiten entstanden aus Lust an der Entdeckung und er schonte seine Kräfte nicht, um das letzte Fünkchen Freude daraus zu schlagen. So verhalfen ihm die Tugenden Fleiß und Ausdauer, die er im hohen Maße besaß, zu erhöhtem Genuss.
Bei aller Feinsinnigkeit in der Kunst war Dresen immer für den plebejische Spaß zu haben. Auf einer Geburtstagsfeier vor wenigen Wochen krakeelte der Opernregisseur und Bachkenner stundenlang Volks- und Triviallieder und gab sich zutiefst gekränkt, als die Gaststättenwirtin auf Grund der späten Stunde ihm verwehrte, die »Internationale« am Klavier zu intonieren. »Mit beiden Beinen auf der Erde, den strubbligen Kopf in allen Himmeln«, heißt es im Nachruf des Neuen Deutschland. Bei unserer gemeinsamen Übersetzerarbeit war der bei Hans Mayer ausgebildete Germanist genauso begeistert vom Slang der O´Caseyschen Bauarbeiter (»Ich höre meine Großmutter reden«) wie von Shakespeares gewaltigem Blankvers, den er in schauderhaftem Englisch skandierte. Seine Operninszenierungen, etwa Die verkaufte Braut, Eugen Onegin, Der Wald waren auch deshalb bemerkenswert, weil der Regisseur sich von der üblichen bukolischen Idylle absetzte und seine Erfahrungen des Landlebens einbezog.
Nach einer Probe zu Juno und der Pfau schrie Käthe Reichel auf: »Dieser Dresen ist so geil auf Genuss, da kommt kein Schauspieler hinterher«. Mickels Gedichtanfang »Spaß muß es machen, sonst machts keinen Spaß!« gab auch Dresens Lebensgefühl wieder. Aber Spaß war für ihn keine Privatsache, er war verknüpft mit der Beschaffenheit der Welt und hatte deshalb einen bitteren Hintergrund. Treffend bemerkte Friedrich Dieckmann in seiner Besprechung zur Faust-Inszenierung: »Das Individuum, die Persönlichkeit, ist ihm (Dresen) eine unerfüllbare Kategorie, ehe nicht das Ganze im Lot ist.« Dresen vermochte es weder im Osten noch im Westen Deutschlands, mit seiner Umgebung Kompromisse zu schließen.
Was ihm entschieden keinen Spaß machte, das war administrative Verantwortung. Er (der Preuße) nahm die Verantwortung ernst, darum drückte er sich gerne vor ihr. Am liebsten arbeitete er unter dem Dach eines Beschützers wie Wolfgang Heinz (dem Dresens Kompromisslosigkeit allerdings arg zusetze). Als er beruflich soweit war, dass er vor der Alternative stand, Oberspielleiter des Deutschen Theaters zu werden, oder aber unter Wert zu arbeiten, verließ er die DDR. Er würde hier zwischen unkontrollierbaren Kräften zermalmt werden, vertraute er mir an. In Wien fand er in Benning wieder einen Beschirmer. Dann stürzte er sich sehenden Auges in das Abenteuer des Schauspieldirektoriats von Frankfurt. Hier, wie zuvor in der DDR, obsiegten Kräfte, denen die Idee eines nationalen deutschen Theaters nicht ins Konzept passten. Dresen legte das Amt vorzeitig nieder. Es war ein ehrenhaftes Scheitern. Danach teilte sich sein Wirken in Opernregie und kritischer Essayistik auf. Wobei seine Schriften nicht als unkünstlerisch und die Inszenierungen nicht als unpolitisch gelten dürften - man denke nur an den Skandal zu seinem Ring in Wien. In den letzten Jahren hat sich Dresen zu einem gefragten Vortragsredner entwickelt. Der Lessing-Preis, der ihm Januar dieses Jahres verliehen wurde, war wohlverdient.
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