Theo ist drei und sein Lieblingslied stammt von den Toten Hosen. Angetan haben es ihm weniger der Kinderchor im Intro oder die kindgerechte Harmonik. Auch dass der Sänger seinen Namen einer Bonbonmarke verdankt, ist nicht wirklich ausschlaggebend. Fasziniert ist Theo vielmehr vom Refrain: „Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft.“ Vermutlich stellt Theo sich vor, dass es dann endlich jede Menge Gummibärchen, viel Schokolade und eimerweise Fanta geben wird; jeden Tag wird Geburtstag gefeiert und außerdem ist immer jemand da, der ihn beim Fußballspielen gewinnen lässt.
Wahrscheinlich habe ich mit drei Jahren ähnlich gedacht – mal abgesehen davon, dass es damals Bluna statt Fanta gab und mein Enthusiasmus für Fußball eher begrenzt war. Für Dreijährige ist das sicher eine sehr vernünftige Einstellung, doch bedenklich stimmt es, wenn erwachsene Menschen nicht über diese Entwicklungsstufe hinausgelangen, ja wenn ganze Volkswirtschaften einschließlich ihrer selbsternannten Elite plötzlich in eine solche Wünsch-dir-was-Ökonomie verfallen, in der alles möglich ist, wenn man es nur laut genug fordert.
Doch wie kam es eigentlich dazu? Erinnern wir uns: Bis vor wenigen Monaten wurden wir eigentlich nicht von Politikern regiert, sondern von genialen Bankern und begnadeten Unternehmenslenkern. Die Lenker kauften Firmen wie unsereiner die Brötchen beim Bäcker, im Gegensatz zu uns machten sie damit aber immer höhere Gewinne, nicht zuletzt, weil sie die Leute rauswarfen, die früher in den Firmen gearbeitet hatten.
Besser noch waren die Banker, Helden der Hochfinanz, die unendlich viel Geld damit machten, dass sie schlechte Kredite kauften, diese mit guten kombinierten und alles zusammen zu einem höheren Preis an andere Banker verkauften, die diese Kredite cool fanden und außerdem damit rechnen konnte, die merkwürdige Mixtur für noch viel mehr Geld an weitere Banker loszuwerden. Immer mehr Banker fanden diese Kreditmixturen cool und wollten auch welche haben. Weil dadurch der Wert dieser Mixturen immer weiter stieg, fanden noch mehr Banker diese Mixturen cool, was wiederum zu weiteren Wertsteigerungen führte, so dass man auch dann sagenhafte Gewinne verbuchen konnte, wenn man sie schön sicher im Safe hielt. Und weil sie soviel Geld hatten, konnten sie auch viel verleihen. Das freute die Manager, die dadurch noch mehr Firmen kaufen konnten, was wiederum die Aktienkurse steigen ließ.
Normalerweise nennt man so was ein Schneeballsystem. Doch hier war es ganz anders. Die Banker und Lenker schafften Arbeitsplätze und zahlten Steuern. Gut – das mit den Steuern klappte nicht immer, zuweilen kamen die versehentlich bei irgendwelchen Stiftungen in Liechtenstein an, und auch die Arbeitsplätze wurden häufig nur kurzfristig in einem Billiglohnland geschaffen, um kurze Zeit später in ein anderes noch billigeres Land verlegt zu werden. Aber das waren Kleinigkeiten. Immerhin: Die Aktionäre waren glücklich und hatten nichts dagegen, dass die Top-Leute in Nadelstreifen über Boni und Aktienoptionen versuchten, ein wenig von der großen Sause mitzubekommen. Auch die Politiker freuten sich, denn sie konnten ihren erstaunten Wählern Jahr für Jahr bessere Wirtschaftszahlen präsentieren. Die Wähler wunderten sich zwar, dass von all dem schönen Geld nichts bei ihnen ankam, doch sie trösteten sich, dass das alles nur eine Frage der Zeit sei.
Ansonsten machten die Politiker eine schlechte Figur. Sie kamen oft schon mit den Unterschied von brutto und netto durcheinander, und wenn sie irgendwann einmal „basta“ sagten, konnte man darauf wetten, dass sie bald abgewählt wurden. Von den Bankern und Lenkern wurden sie nur mitleidig belächelt, weil sie wenig verdienten, keine Boni erhielten, mit schäbigen, alten Flugzeugen durch die Welt fliegen mussten, und wenn man ihnen einmal einen schönen Urlaub spendierte, hatten sie gleich jede Menge Ärger am Hals.
Am erbärmlichsten war aber, dass sie kaum etwas zu sagen hatten. Wenn sie irgendetwas beschlossen, was den genialen Bankern und Lenkern missfiel, dann gingen die ganz schnell in ein anderes Land. Und da das niemandem nutzte, beschlossen die Politiker, lieber nichts zu beschließen, was ihren Freunden in der Wirtschaft missfallen könnte. Immerhin blieb auch einiges Geld in ihren Kassen hängen, dafür mussten sie allerdings ihren Wählern dann und wann ein paar unbequeme Wahrheiten verkünden – unvermeidliche Sachzwänge, die dazu führten, dass Schulen und Universitäten verfielen, kein Geld für die Sanierung von Straßen da war, Jobs abgebaut und die Löhne gesenkt werden mussten; zum Schluss wollten die Politiker sogar ihre Eisenbahn verkaufen.
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Es wird einmal zu schön, um wahr zu sein. Habt ein letztes Mal Vertrauen*
Doch bevor es soweit war, kam plötzlich die Gelddruckmaschine ins Stocken. Zur Überraschung der Banker änderte ihre geniale Verpackungsstrategie nämlich nichts daran, dass arme Leute, die große Kredite aufgenommen hatten, arme Leute blieben und daher auch ihre Kredite nicht so richtig zurückzahlen konnten. Langsam aber sicher setzte sich unter den genialen Bankern die Erkenntnis durch, dass schlechte Kredite, schlechte Kredite sind – egal, ob man sie zusammen mit guten Krediten verkauft oder nicht.
Plötzlich fanden die Banker diese merkwürdigen Mixturen gar nicht mehr so cool und niemand wollte sie mehr haben. Wer sie hatte, der blieb auf ihnen sitzen und was noch schlimmer war: Sie verloren ständig an Wert. Die grandiosen Gewinne verwandelten sich in ebenso grandiose Verluste und das ganze schöne Schneeballsystem schmolz in sich zusammen. Und da die Banker einander nicht mehr trauten, liehen sie einander auch kein Geld mehr, und da sie kein Geld hatten, konnten sie es auch anderen Firmen nicht mehr verleihen. Dadurch konnten auch die Manager keine Firmen und Maschinen mehr kaufen – die Aktienkurse sanken und die reale Ökonomie wurde in Mitleidenschaft gezogen.
All dies geschah Schritt für Schritt. Das Endergebnis zeichnete sich schon seit langem ab; eigentlich hätte es genug Zeit gegeben, das ganze System langsam und mit erträglichen Verlusten auf eine vernünftige Basis zu stellen. Doch was hätten die genialen Banker, die Unternehmenslenker und die Politiker dann der erstaunten Öffentlichkeit erzählt? Sollten die Banker sagen, dass sie ein gigantisches Schneeballsystem betrieben und sich dabei hemmungslos bereichert hatten? Oder dass ihnen ihr eigenes System längst über den Kopf gewachsen war? Sollten die Politiker sagen, dass auch sie nicht verstanden hatten, was los war? Oder dass sie ihre Wähler hinters Licht geführt hatten? Das war eindeutig zuviel verlangt.
Was also tun? Genau hier kommen die Apokalyptiker ins Spiel. Sie hatten bereits lange vor unserer Zeit erkannt, dass niemand mehr nach dem Urheber einer Katastrophe fragt, wenn sie nur groß genug ist. Sobald wir selbst uns bedroht fühlen, wollen wir einfach nur, dass es schnell vorbei ist. Das hat auch Theo schon erkannt: Er hat längst gelernt, dass seine Eltern böse werden und ihn bestrafen, wenn er nur ein wenig zu spät nach Hause kommt. Bleibt er dagegen so richtig lange weg, dann bekommen die Eltern Angst und freuen sich, wenn Theo endlich wieder da ist.
Die Sonne wurde schwarz
wie ein Trauergewand,
und der ganze Mond wurde wie Blut.
Der Himmel verschwand
wie eine Buchrolle,
und alle Berge und Inseln
wurden von ihrer Stelle weggerückt.
Apokalypse des Johannes 6, 12-14
Die Apokalyptiker der Antike gaben sich da noch ein wenig mehr Mühe: Sie malten die Schrecken geradezu lustvoll aus, ließen die Sterne vom Himmel fallen, Meere sich blutrot färben, den Himmel verschwinden und ungeahnte Plagen über die Welt kommen. Damit war klar: Hinter solch gigantischen Schrecken können nur noch höhere Mächte stecken.
Ganz ähnlich lief es mit der Wirtschaftskrise. Sie musste nur groß genug werden – und das schafften die genialen Banker und Manager nun wirklich mit links. Im Grunde mussten sie nur abwarten, der Rest kam von alleine. Angesichts der immer deutlicher sich abzeichnenden Katastrophe bekamen es die potenziellen Kritiker selbst mit der Angst zu tun, weil ihr eigenes Bankkonto, ihr eigenes Depot, ihre Altersversorgung und natürlich ihr Arbeitsplatz in Gefahr geriet – kurz: Die Krise hatte apokalyptische Ausmaße angenommen. Die Frage nach menschlicher Verantwortung stellte sich unter diesen Umständen nicht mehr – offenbar mussten hier höhere Mächte im Spiel sein. Auch die Gegensätze zwischen den unterschiedlichen Gruppen und Parteien schrumpften angesichts dieses apokalyptischen Grauens zusammen – wer wollte sich noch mit kleinlichem Gezänk aufhalten, wenn unser aller Existenz auf dem Spiel steht?
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Das Hier und Heute ist dann längst vorbei
Wie ein alter böser Traum*
Apokalypse heißt aber auch Umbruch. Dieser Umbruch zerstört nicht nur die bestehende Welt, sondern er führt auch in eine neue, völlig andere Welt. Und je schlimmer die Katastrophe, je grandioser das Untergangsszenario, desto tiefer die Kluft zwischen der bisherigen Welt und dem, was da kommen soll. In dieser absoluten Ausnahmesituation, in der kein Stein auf dem anderen bleibt, können daher auch die alten Regeln nicht mehr gelten. Wem wollte man da her vorwerfen, wenn er heute tut, was er gestern als verwerflich gebrandmarkt hat? Ein Schelm, der Böses dabei denkt, wenn die CDU plötzlichüber die Verstaatlichung von Banken nachdenkt – ein Gedanke, derwas vor kurzem noch als Teufelszeug aus der Hexenküche des Kommunismus galt. Nun aber können Manager Geld und Unterstützung vom Staat fordern, und Banker, die Hohepriester des Kapitalismus, ihre eigenen Institute zur Verstaatlichung anbieten.
Es wird die Wiederauferstehung
vom Heiligen Geist
Und die vom Weihnachtsmann*
Das apokalyptische Denken liefert gleich noch einen weiteren Grund warum sich niemand an dieser Entwicklung störte – und hier lohnt wieder ein Blick auf Theo und die Toten Hosen. In den apokalyptischen Lehren folgt auf die Finsternis das Licht; der Umbruch ist ein Vorspiel paradiesischer Zeiten, eines Neuen Jerusalem, wie es in der Johannesapokalypse heißt: Seht, ich mache alles neu! Und in diesem Paradies, da kann jeder hoffen, dass auch seine Wünsche erfüllt werden.
Es kommt die Zeit
in der das Wünschen wieder hilft.
Wünsch dir was!*
Tatsächlich scheinen wir mittlerweile wieder in einer Wünsch-Dir-was-Ökonomie angekommen zu sein. Das Schöne daran ist, dass jeder hoffen kann, dass auch für ihn etwas herausspringt. Neidkomplexe sind da nicht angebracht – auch Theo stört sich nicht daran, dass andere Schokolade bekommen, solange nur genug Kekse und Bonbons für ihn selbst da sind. Und genauso wenig wie sich Theo und die Toten Hosen sich Gedanken darüber machent, wo all der Reichtum herkommt und wer all die Gummibärchen bezahlen soll – genauso scheint es heute auch unseren Politikern und Ökonomen zu gehen. 500 Euro für jeden, ein neues Auto auch für Hartz IV, hier eine kleine Bank gerettet, dort einem klammen Milliardär kurzzeitig aus der Patsche geholfen – alles kein Problem! Die Manager werden von den Schulden befreit, die sie angehäuft haben, Opel kommt von General Motors los, von der Verarmung bedrohte Banker bekommen Staatsknete, um ihre hart erarbeiteten Boni zu finanzieren, die IGMetall kann die Mitbestimmung bei Schaeffler durchsetzen und der öffentliche Dienst erhält fünf Prozent mehr Lohn.
Am besten geht es jedoch unseren Politikern: Sie regieren wieder, so ganz in echt. Vergessen die vielen Jahre der Frustration und Erniedrigung – wer wollte sich mit lausigen zehn Prozent Unterschied zwischen brutto und netto aufhalten, wenn hunderte von Milliarden zur Rettung der Weltökonomie bereitgestellt werden müssen? Die Manager pilgern als Bittsteller zu den Politikern wie weiland Heinrich IV. nach Canossa, und man kann sie ganz cool dazu verdonnern, doch bitte ihr Gehalt zu reduzieren. Und wenn sie immer noch mit ihren viel schöneren Flugzeugen herumdüsen, schickt man sie einfach wieder nach Hause. Münte kann sich über die Vertreibung der Heuschrecken freuen, Angela, Peer und Frank-Walter spielen fröhliches Wettretten, Oskar und Gregor finden sich bestätigt, dass sie es eigentlich schon immer gewusst haben, und Guido kann endlich wieder seine 18-Prozent-Schuhe hervorholen, ohne dass jemand dumm grinst. Für jeden ist was da – was wollen wir mehr? Dagegen ist das Neue Jerusalem doch ein reines Hirngespinst und Theos Gummibärchen sind Peanuts – oder?
* Zitate aus dem Lied „Wünsch Dir was“ von den Toten Hosen
Michael Pauen ist Philosophieprofessor an der Berlin School of Mind and Brain und der Humboldt-Universität Berlin. Unter anderem hat er die Bücher Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne (Akademie Verlag 1997) und Dithyrambiker des Untergangs. Gnostisches Denken in der Philosophie und Ästhetik der Moderne. (Akademie Verlag 1994) geschrieben
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