Albträume in Neo-Noir

Serie Unser Autor genießt es, der israelischen Serie „Losing Alice“ in die Falle zu gehen. Spoiler-Anteil: 17%
Ausgabe 10/2021

„Es ist schwer, bei etwas so Verrücktem so genau zu sein.“ Das Drehbuch, das die Regisseurin Alice (Ayelet Zurer) in Händen hält, hat es in sich. Die darin beschriebenen Szenen sind offenbar explizit überwältigend und bedrohlich. Alice hatte das Skript zwei Wochen lang in ihrem E-Mail-Postfach missachtet, bis sie auf der Heimfahrt im Zug – war es tatsächlich ein Zufall? – die Autorin kennenlernte. Die junge Sophie (Lihi Koronowski) hat sich als Bewunderin ihrer Arbeit geoutet, war angeblich sogar in einem von Alice’ früheren Schreibkursen. Nun soll Room 209, so der Titel, verfilmt werden. Zu Hause angekommen, erzählt sie ihrem Mann David (Gal Toren), einem populären Schauspieler, von der merkwürdigen Begegnung mit der Fremden im Zug. Er kennt das Buch, denn er ist bereits als männlicher Hauptdarsteller engagiert. „Ziemlich pervers“, meint er. Es sei die Geschichte einer jungen Frau, die mit dem Vater ihrer besten Freundin ein SM-Verhältnis beginnt – mit fatalen Folgen. Alice liest Room 209 in derselben Nacht zu Ende. Kann man sich so etwas ausdenken?

Alice ist Ende vierzig, hat drei Töchter und ein wunderschönes Haus am Stadtrand. Ein normales, gut situiertes Familienleben, möchte man meinen – aber warum ist eigentlich ständig die Schwiegermutter zu Besuch und meldet wenig subtil Besitzansprüche auf ihren Sohn an? Einmal trägt sie das seidene Nachthemd der Schwiegertochter. Alice durchlebt eine Schaffenskrise, dreht Fernsehwerbespots, kann nicht mehr schreiben. Sie weiß, dass Room 209 sie als Regisseurin retten würde. Was sie nicht weiß: Sophie hat sie längst dafür ausgesucht.

Denn die Jungautorin ist plötzlich immer da, erscheint zum Kindergeburtstag und malt Alice’ kleiner Tochter tiefrote Lippen. Sie trifft heimlich die für die Hauptrolle vorgesehene Schauspielerin am Vorabend des Castings, woraufhin diese beim Vorspielen in Tränen ausbricht. Bringt sich selbst für die Rolle in Position und hat – wie die junge Frau in ihrem eigenen Buch – einen älteren Freund. Und wie in Room 209 geht es von Beginn an auch in Losing Alice um Verlangen. Um Obsession. Um das Spiel mit der Macht, die man über andere Menschen besitzt. Vielleicht auch über die Freundin, wenn diese sich nicht mehr zu helfen weiß und – wie in den ersten Minuten dieser von Beginn an verstörenden Serie zu sehen – in einem Hotelzimmer nach Erlösung sucht.

Losing Alice ist eine der ungewöhnlichsten Fernsehserien dieser Tage und stammt – einmal mehr – aus Israel. Im vergangenen Sommer in Israel und nun von Apple TV+ international veröffentlicht, stammt der achtteilige Thriller im Unterschied zu den meisten Serienproduktionen nämlich aus einer Hand – und erinnert damit mehr an klassisches Autorenkino.

Sigal Avin, in Florida geboren und im Alter von zehn Jahren mit den Eltern nach Israel emigriert, hat als Drehbuchautorin und Regisseurin in Personalunion ein Szenario entworfen, in dem Psychohorror, Neo-Noir-Albträume und Gesellschaftsstudie ineinander übergehen. Es ist die eigene Welt, die für Alice zur Bedrohung wird, ihre eigenen Zwänge und unerfüllten Wünsche. Vieles wirkt vertraut oder zumindest so vertraut wie die Filme von Alfred Hitchcock, Brian De Palma und David Lynch, die teilweise sogar direkt zitiert werden. Doch die zahlreichen Anspielungen braucht man nicht zu kennen, um sich auf dem doppelten Boden, auf den man geführt wird, bald ziemlich unwohl zu fühlen: Ist das eine wie üblich als Realität vorgetäuschte Fiktion einer unüblichen Fernsehserie? Sind die Vor- und Rückblenden, die einen hier wiederholt überrumpeln, Erinnerungsfetzen aus Alice’ Vergangenheit oder schaurige Zukunftsvisionen? Oder sind es bereits Aufnahmen aus Room 209, wie Alice sich diesen Film vorstellt?

Die erstaunliche Kunstfertigkeit liegt auch darin, wie Sigal Avin ihre Heldin offenen Auges in ihr Verderben laufen lässt: Obwohl jeder Verdacht, der sich in Alice regt, sich im Nachhinein bewahrheiten soll, wird ihr Widerstand gegen den Eindringling von Folge zu Folge schwächer. Wie ein endlos geflochtenes Band verwickeln sich ihre und Davids Halluzinationen und Fantasien mit der Geschichte von Sophie, die als Femme fatale mit Pagenkopf den beiden eine Falle nach der anderen stellt.

Jedenfalls glaubt man das. Bis man erkennt, beim Zuschauen selbst in einer solchen gelandet zu sein.

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