Direkt in die Seele

Kino Roy Andersson dreht immer wieder den gleichen Film, nur ein wenig anders. Dieser ist besonders gut
Ausgabe 38/2020

Wer sind diese seltsamen Menschen? Diese Frauen und Männer, die sich wie Geister durch die Welt bewegen, auf den Straßen und in ihren Wohnungen herumstehen, denen meist banale, eben alltägliche Dinge geschehen und die anscheinend nicht wissen, wo sie hingehören? Menschen, die aus dem Fenster starren und so tun, als ob es niemanden neben ihnen gäbe, und falls doch, dass sie das auf keinen Fall interessieren dürfe. Etwa die Informationstechnikerin in ihrem Büro, die „keine Scham kennt“, wie eine Frauenstimme aus dem Off erklärt. Oder der Mann, der im Bus plötzlich zu weinen beginnt, weil er „nicht weiß, was er will“ und damit selbstverständlich an die falsche Öffentlichkeit gerät: „Traurig sein kann man auch zu Hause.“

Unter den vielen Eigenbrötlern des europäischen Autorenkinos ist der 77-jährige Roy Andersson jedenfalls ganz vorn dabei. Im Grunde dreht der Schwede immer den gleichen Film, nur ein wenig anders. Und das ist gut so. Wer sich also nach dem Abschluss von Anderssons sogenannter Trilogie des Lebens (Songs From the Second Floor, Das jüngste Gewitter und Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach) von seinem jüngsten Film etwas Unerwartetes erwartete, hat Pech gehabt. Alle anderen großes Glück. Denn Über die Unendlichkeit hinterlässt einen noch tieferen Eindruck als seine Vorgänger.

Um Anderssons Kino zu beschreiben, genügen wenige Begriffe, weshalb sich das Kritikervokabular wohl seit Jahren gleich liest: misanthropisch, sarkastisch, philosophisch, manieriert, existenzialistisch, verzweifelt, absurd, stilisiert, absonderlich, tragikomisch, und so weiter. Auch auf Über die Unendlichkeit trifft das irgendwie alles zu, auch dieser Film besteht aus ausschließlich im Studio präzise konstruierten Tableaus, aus gemalten Trompe-l‘œil-Hintergründen im Farbton Gelb-Braun-Grau. Die jeweils mehrminütigen Miniaturen haben keinen Anfang und kein Ende, sondern sind Momentaufnahmen: eben Augenblicke aus der Unendlichkeit.

Die Zeit macht alle gleich

Manchmal geschieht etwas, oft nichts. Die meisten Menschen haben anonyme, leichenblasse Gesichter, dazwischen gibt es markante historische Szenen wie einen Trupp Soldaten im Schneesturm („Ich sah eine besiegte Armee“) oder Hitlers offensichtlich letzte Minuten im Bunker. Dennoch ist hier kein Moment, auch nicht der scheinbar geschichtlich bedeutende, wichtiger als die anderen, weil die Zeit – oder eben die Unendlichkeit – ohnehin alles und alle gleich macht.

Die Inspirationen für sein Kino und speziell für diesen Film, auf die Andersson selbst verweist, auszumachen, ist zwar interessant, aber nicht nötig. Otto Dix, Neue Sachlichkeit, Edward Hopper, Marc Chagall, Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Doch man braucht die Filme nicht zu analysieren, um sie in irgendeiner Weise besser zu verstehen. Das ist Anderssons große Kunst: Filme zu inszenieren, deren Wirkung über den Kopf direkt auf die Seele zielt. Was nicht heißt, dass hier der große Jammer über den auf sich zurückgeworfenen modernen Menschen angesagt wäre: Zwar trieft auch Über die Unendlichkeit vor Weltschmerz, aber ohne diesen als tragisch zu begreifen. Vielmehr gilt es, ihn zunächst einmal an den unterschiedlichsten Menschen und Situationen festzumachen – und in der Folge seine Nichtigkeit zu erkennen. Was unterscheidet eine Frau, der in der Bahnhofshalle der Schuhabsatz bricht, von einem Mann, der, vom Mob verhöhnt, sein Holzkreuz durch die Straßen schleppt? Weil sich Anderssons Figuren nicht entwickeln – jedenfalls nicht in konventioneller Weise –, verweigern sie sich zunächst in jeder Hinsicht einem Gefühl von Empathie. Ihre reines Dasein muss uns genügen.

Deshalb interessiert man sich für sie wie für Probanden in einer Versuchsanordnung: Ein älteres Paar sitzt auf einer Parkbank auf einer Anhöhe über der Stadt; sie beobachten einen Vogelschwarm und stellen fest, dass es „schon September“ sei. Ein junges Liebespaar fliegt engelsgleich eng umschlungen über das zerstörte Köln. Ein junger Mann, der „noch nicht die Liebe gefunden hat“, beobachtet vor einem Schaufenster die von ihm geliebte Frau beim Wässern einer Topfpflanze. Ein anderer Mann, „der um sein Leben bettelte“, wird für seine Hinrichtung an einen Pfahl gebunden. Drei junge Frauen beginnen vor einem Café zu tanzen und bekommen dafür Applaus. Ein Priester, der in mehreren Szenen auftaucht, verliert seinen Glauben an Gott und sucht Rat bei seinem sehr irdischen Psychiater. „Tut mir leid, aber wir schließen gerade.“

Vielleicht liegt die Modernität Anderssons darin, dass er völlig unmodern ist. Ihm fehlt der hippe Zynismus, für den etwa sein jüngerer Landsmann Ruben Östlund (The Square) gefeiert wird. Der Schlüssel zu Anderssons Filmen ist vielmehr Konzentration: sowohl die seiner Miniaturen, als auch unsere, mit der wir jedes Detail erforschen und jeden einzelnen Satz der spärlichen Dialoge bewusst aufnehmen. Selten fordern im Kino die Sinne und der Verstand einander gegenseitig so heraus.

Den Titel des Films verhandelt Andersson in einer Szene mit zwei Jugendlichen, die feststellen, dass Unendlichkeit nichts anderes sei als stetig umgewandelte Energie. Weshalb der Bursche und das Mädchen darin übereinkommen, dass die Wiedergeburt beschlossene Sache sei. Die entscheidende Frage aber lautet: als Tomate oder als Kartoffel?

Info

Über die Unendlichkeit Roy Andersson Schweden 2019, 78 Minuten

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