Kino Der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi (Oscar für „Drive My Car“) dreht Filme wie einst Eric Rohmer: sprachlastig, aber bezaubernd. Auch in „Das Glücksrad“ lässt er seinen Figuren nun viel Raum für widersprüchliche Gefühle
Im Augenblick des Zufalls zeigt sich, wenn nicht der wahre Charakter, so doch oft zumindest ein wahrhaftiges Verhalten. Für das Kino ist der Zufall ein Glücksfall, weil die Figuren in besonderer Weise, unvermittelt und unvorbereitet, vor unseren Augen auf die Probe gestellt werden. Und weil die Geschichte damit unverhofft eine neue Wendung nehmen kann.
Am bekanntesten in dieser Hinsicht sind leider jene Episodenfilme, die ihre Figuren irgendwann einander über den Weg laufen beziehungsweise diese sich schicksalhaft kreuzen lassen. Das galt eine Zeitlang als ziemlich modern und wirkt mittlerweile gerade deshalb etwas altbacken. Doch es gibt auch einen anderen Blick auf den Zufall und seine zwischenmenschlichen Auswirkungen, nämlich den, wie ihn der japanische Autorenfilmer
orenfilmer Ryusuke Hamaguchi in Das Glücksrad zeigt.Die erste Episode trägt den schönen Titel Magie (oder etwas weniger Verlässliches) und erzählt von einer Dreiecksgeschichte, die das klassische Szenario eindrucksvoll unterläuft. Nach einem Fotoshooting sitzen zwei gute Freundinnen, Meiko (Kotone Furukawa) und Tsugumi (Hyunri), im Taxi, als sich im Gespräch herausstellt, dass der Mann, den Tsugumi vor wenigen Tagen kennengelernt und in den sie sich verliebt hat, der Exfreund von Meiko ist. Worauf die nunmehr Eifersüchtige, kaum ist die Frischverliebte ausgestiegen, Kazuaki (Ayumu Nakajima) in seinem Büro aufsucht.Die nun folgende Unterhaltung hat, typisch für Hamaguchis Arbeitsweise und Stil, etwas Bühnenhaftes, pendelt zwischen wechselseitiger Annäherung und Abwehr. Keiner der beiden weiß offensichtlich, was sie oder er im nächsten Moment sagen wird – oder eigentlich will. Ein Wort ergibt das andere, ohne dass das Gespräch zu einem Wortgefecht führt oder ins Melodramatische kippt. Es ist vielmehr ein Ausloten unsicherer Gefühle, das zu keinem Ergebnis gelangt. Bis wenige Tage später eine – selbstverständlich zufällige – Begegnung zu dritt plötzlich für alle an diesem Figurenkarussell Beteiligten mehrere Auswege offen lässt.In allen drei Episoden von Das Glücksrad, der 2021 bei der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, stehen verschiedene Frauenfiguren im Mittelpunkt. Dass sich ihre Wege, das wäre für Hamaguchi eine Banalität, jedoch nie kreuzen, ist selbstverständlich kein Zufall, sondern kann als Fortführung der davor entstandenen Arbeiten, Happy Hour (2015) und Asako I & II (2018), verstanden werden. In Happy Hour, der ihm endgültig den Ruf als sachlich-poetischer Realist bescherte, nimmt sich Hamaguchi mehr als fünf Stunden Zeit, um genauen Blickes vier Freundinnen zu beobachten, die nach der Bekanntgabe der einen, sich scheiden lassen wollen, jeweils neue Wege einschlagen. Die vier Frauen mit unterschiedlichen Berufen und Lebenswelten – gespielt von Laiendarstellerinnen, mit denen Hamaguchi zuvor im Rahmen eines mehrmonatigen Theaterworkshops arbeitete – reagieren unterschiedlich auf die zunächst schockierende Nachricht. Und doch stellt sich im Laufe der Zeit, die man auch selbst im Kino aufbringen muss, bei allen die Frage nach dem eigenen Glück.Asako I & II wiederum erzählt die Geschichte einer jungen Frau aus Osaka, die sich in einen unberechenbaren Draufgänger verliebt, der eines Tages spurlos aus ihrem Leben verschwindet. Bis zwei Jahre später ein anderer, ruhiger und liebenswerter Mann auftaucht, der dem Verschwundenen aufs Haar gleicht. Was nach Suspense und Genrekino, nach Hitchcock und Lynch klingt, erweist sich als feinfühlige, psychologische Studie über das Vergessen und Loslassen.Ryusuke Hamaguchi ist ein exzellenter Drehbuchautor, der seine Figuren Dinge sagen lässt, wie man sie im Kino derzeit kaum woanders zu hören bekommt. Keine Lebensweisheiten, keine Erkenntnisse oder gar Urteile. Obwohl Hamaguchis Figuren immer getrieben wirken, hat man nicht den Eindruck, dass sie auf Sinnsuche wären. Sie sind eloquent, mitunter beinahe zu souverän, denn eines haben sie alle gemeinsam: Sie müssen reden, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen – und um sich selbst näher zu kommen. Wie in den Filmen von Eric Rohmer, von dem sich Hamaguchi beeinflusst zeigt und dessen Vorliebe für Zyklen und Variationen er teilt, sind Hamaguchis Figuren ganz gar erfüllt von der Leidenschaft für die Sprache, mit der sie ihre Liebesunordnungen aufzuräumen versuchen. Und damit nicht weniger als ihr Leben.Eingebetteter MedieninhaltDie zweite Episode von Das Glücksrad mit dem Titel Die Tür bleibt offen spielt nahezu ausschließlich im Arbeitszimmer des Literaturprofessors Segawa (Kiyohiko Shibukawa), der Besuch von seiner Studentin Nao (Katsuki Mori) erhält, nachdem er einen wichtigen Preis für seinen aktuellen Roman bekommen hat. Die verheiratete Nao möchte den Lehrer verführen, weil dieser ihren Geliebten öffentlich – bei geöffneter Bürotür – gedemütigt hat. Doch auch diesmal wird Segawas Türe offen bleiben, selbst als Nao dem introvertierten Professor dessen pornografische Passage aus seinem eigenen Roman vorliest; auf die ihm gestellte Honigfalle reagiert Segawa jedoch anders als erwartet. Stattdessen könnte es sein, dass man im Kino in die Falle von Hamaguchi tappt, der diese erotische Szene wie Segawa („Die Worte hallen in Erfahrungen der Leser wider“) präzise zur Halbzeit seiner Erzählung platziert. Dass man als Autor derart das nachlassende Interesse des Publikums aufrechterhalten könne, lässt Hamaguchi selbstverständlich nur seine Professorenfigur behaupten.Die Sehnsucht nach KlarheitIn Das Glücksrad drückt sich, wie in allen Filmen von Hamaguchi, eine Sehnsucht nach Klarheit aus. Nach Gewissheit. Wohl auch deshalb wirken Hamaguchis Filme stets aufgeräumt und konzentriert, zugleich aber befinden sich die Figuren durch ihre Getriebenheit stets in einem Schwebezustand, wie auch zuletzt der Schauspieler und Theaterregisseur Kafuku im oscarprämierten Drive My Car (2021), der mit seinem knallroten Saab ans Meer nach Hiroshima aufbricht, um als Tschechow-Experte Onkel Wanja zu inszenieren – und den Tod seiner Frau zu verarbeiten. Hamaguchis Figuren sind bestrebt, ihr Leben zu ändern – aber können das erst, wenn sie zurück in die Vergangenheit blicken. In Das Glücksrad wird das am eindrücklichsten in der dritten und besten Episode mit dem Titel Noch einmal ersichtlich.Moka (Fusako Urabe), eine Frau mittleren Alters, fährt darin für ein paar Tage nach Sendai, um an einem Klassentreffen teilzunehmen. Das Treffen selbst verläuft schlecht, die Außenseiterin ist seit Schultagen eine solche geblieben. Doch kurz vor der Abreise begegnet sie am Bahnhof ihrer Schulfreundin Nana (Aoba Kawai), in die sie vor zwanzig Jahren unglücklich verliebt war. Die Begegnung geschieht nicht auf dem Bahnsteig, sondern auf zwei Rolltreppen, die nebeneinander in die gegenläufige Richtung verlaufen: ein sich unablässig drehendes Glücksrad, das beide im richtigen Augenblick betreten haben. Dann stellt sich heraus, dass es sich bei der ehemaligen Geliebten um eine Verwechslung handelt. Womit allerdings nur der erste Twist innerhalb dieser Miniatur verraten sei, denn viel wichtiger ist die jeweilige Reaktion auf das Missverständnis. Man könnte das Treffen sofort beenden, man könnte aber auch die Chance ergreifen, um – abermals wie auf einer Bühne – in eine fremde Rolle zu schlüpfen. Natürlich kann man die Vergangenheit nicht ändern, aber man kann sich und den anderen durch eine neue Sicht auf das Geschehene trösten. Und manchmal kann es sogar sein, dass man bereut, etwas Bestimmtes nicht gesagt zu haben.Zusammengehalten werden die Episoden von Richard Schumanns romantischem Klavierstück Kinderszenen – ebenfalls poetische Miniaturen, die wiederum passenderweise, und nicht nur weil schwer verliebt komponiert, einen eigenen Zyklus bilden. Und wie bei Schumann sind es auch bei Ryusuke Hamaguchi die leisen und nur scheinbar leichten Töne, die doch so schwer ins Gewicht fallen.Placeholder infobox-1
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