Charlie und Eli Sisters waren keine echten Mörder. Ihre Namen wird man vergeblich im Lexikon der legendären Revolverhelden suchen. Denn die Brüder tauchten erst vor sieben Jahren zum ersten Mal auf, und zwar im Roman des kanadischen Autors Patrick deWitt. The Sisters Brothers, nominiert für den Booker Prize, ist die Geschichte zweier Auftragskiller, die sich 1851 auf den Weg von Oregon nach Kalifornien machen, um einen Mann zu jagen. DeWitts Roman ist eine moderne Abenteuerreise im alten Gewand, durch den amerikanischen Westen, den gerade der Goldrausch gepackt hat. Und eine tolle Vorlage für eine Verfilmung.
Denn obwohl – oder gerade weil – der Westernfilm bereits vor Jahrzehnten für tot erklärt wurde, freut man sich immer, wenn er doch wieder auftaucht, selbst wenn er so ironisch-versponnen daherkommt wie zuletzt Damsel mit Robert Pattinson. Denn der Mythos, seine Legenden und Geschichten bieten nach wie vor eine unerschöpfliche Quelle für die Populärkultur, man findet sie in der aktuellen Netflix-Westernserie The Ballad of Buster Scruggs der Brüder Coen ebenso wie im Blockbuster-Videospiel Red Dead Redemption. Was wiederum mit jener Faszination zusammenhängt, die von den Heldenfiguren ausgeht: Sie sind Einsame und Vereinsamte, Außenseiter und Grenzgänger, Fortschrittsverweigerer und Modernisierungsverlierer.
Und, nicht unwesentlich, fast immer Männer. In Jacques Audiards The Sisters Brothers, dem ersten Western des französischen Autorenfilmers mit Leidenschaft für das Genrekino (Ein Prophet, 2009), wird diese Männlichkeit allerdings auf eine harte Probe gestellt.
Das beginnt bereits damit, dass es nicht einen, sondern gleich vier Helden gibt, die diesen Namen nicht verdienen. Das ungleiche Brüderpaar Eli (John C. Reilly) und Charlie (Joaquin Phoenix) Sisters, der ihnen vom selben Auftraggeber vorausgeschickte Detektiv John Morris (Jake Gyllenhaal) und der von allen dreien gejagte Goldsucher mit dem fantastischen Namen Hermann Kermit Warm (Riz Ahmed) bilden in The Sisters Brothers einen Männerbund, wie er im Westernkino schon lange nicht mehr zu sehen war. Und zwar nicht aufgrund des Bruchs mit jener traditionellen Rollenverteilung, wie sie etwa die Glorreichen Sieben oder die Gefürchteten Vier als ausgemachte Profis unter sich ausmachten, oder die Vier Söhne der Katie Elder als kleines Familienunternehmen. Sondern weil bei Audiard der Versuch, zugleich Held und Mann zu sein, von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist.
„Ich mag es, wenn unser Ruf uns vorauseilt“, meint Charlie Sisters zu seinem älteren Bruder. Joaquin Phoenix, für diese Rolle wohl die Idealbesetzung, spielt diesen brutalen, von der Kindheit gezeichneten Säufer, der sich abends am liebsten mit Whiskey zwischen Prostituierten vergnügt, um am nächsten Morgen betrunken vom Pferd zu fallen. Einen Mann also, der seinen eigenen Körper missbraucht und dafür auch zu zahlen bereit ist. Und doch ist seine „Toxic Masculinity“ nicht so giftig wie die dunkelbraune Brühe, die der Chemiker Warm in den Fluss gießt, um das Gold darin sichtbar zu machen. Bald sind alle hinter Warms Zauberformel her. Dass Morris, der ihn bald einholt und zum Überläufer wird, den Brüdern eloquent aufgesetzte Briefe dazu hinterlässt, was sie als Nächstes zu tun hätten, symbolisiert seinen Vorsprung nicht nur in Tagesstrecken.
Gegen den schlechten Atem
Charlie ist der Traumatisierte, dem sein Bruder Eli als Träumer gegenübersteht. John C. Reilly macht aus dieser Figur einen unbeholfenen Melancholiker, der damit kämpft, dass er die Führungsrolle, die ihm als Älterem zustünde, nicht einnehmen kann. Stattdessen schleppt Eli ein Erinnerungsstück mit sich, das sein gesamtes Innenleben auszufüllen scheint: einen roten Schal, den eine nette Frau ihm irgendwann als Abschiedsgeschenk hinterließ. Den schlechten Geschmack, an den sich Charlie beim Saufen und Kotzen längst gewöhnt hat, versucht Eli mit einer im Westen gerade angekommenen Neuerfindung, einer Zahnbürste, wegzuputzen. Das ist mehr als ein formidabler Gag und Seitenhieb auf den Einzug der Zivilisation in die Wildnis: Es ist das Bild eines Mannes, der zwar begriffen hat, dass gegen schlechten Atem ein Kraut gewachsen, der gegen die Verwundung der Seele aber völlig hilflos ist.
Wenn Charlie und Eli schließlich auf Warm und Morris treffen, haben sich diese bereits zusammengetan. Vor allem treffen sie aber auf zwei Männer, die das verkörpern, was sie selbst nie sein werden – auf einen Softie, gespielt vom britisch-pakistanischen Riz Ahmed, der statt von Reichtum von einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft träumt, sowie auf den von Jake Gyllenhaal gespielten Opportunisten Morris, dem, obwohl er seine Abenteuer in einem Büchlein notiert, zusehends die Zeit davonläuft. „Ich bin 35 Jahre alt, und mein Leben ist wie ein leerer Zylinder“, so Morris. In diesem Film klingt das wie die Rechtfertigung eines Mannes mit ausgemachter Midlife-Crisis.
Es gibt in The Sisters Brothers, wie in so vielen anderen guten Western, auch Szenen, in denen die Bewegung kurz zur Ruhe kommt. In den meisten Filmen geschieht das, wenn es Abend wird in der Prärie oder im Gebirge, wenn es Kaffee gibt oder wenigstens einen Unterstand für die Nacht. Bei Audiard sieht das anders aus. So weit kann der Weg von Oregon nach San Francisco – für Eli ein modernes Babylon, in dem er dem technischen Wunder der Wasserspülung begegnet – gar nicht sein, dass den Brüdern Zeit für ein Gespräch bliebe, das diese Bezeichnung verdiente. Und das liegt nicht am Tempo, in dem sie Warm und Morris verfolgen müssen. Wenn sie miteinander sprechen, zanken sie über einzelne Worte, weil ihnen eine gemeinsame Sprache fehlt – die einzig bekannte ist jene der Gewalt. Wohingegen sich der gebildete, sensible Warm beim dandyhaften Morris auf die Rhetorik verlassen muss, um ihn von der idealen Gesellschaft zu überzeugen. Wo er diese denn errichten wolle, möchte Morris wissen. „In Dallas.“ Naiv darf ein Mann, der an die Verwirklichung einer gesellschaftlichen Utopie und an Gerechtigkeit für alle glaubt, schon sein. Aber er sollte wissen, was mit naiven Träumern geschieht.
Wenn im klassischen Western, wie in den Filmen von Großmeister Howard Hawks, Männer eine Zweckgemeinschaft gründeten, so war dies jener Moment, in dem die Gruppe, aber auch der Einzelne zu sich fand. Plötzlich wusste jeder, was er zu tun hatte, so als habe die Entscheidung immer schon festgestanden. Auch in The Sisters Brothers gibt es einen solchen Moment, wenn die Verfolgten und die Verfolger beschließen, das gemeinsame Interesse über das des Einzelnen zu stellen. Jedenfalls vorübergehend. Aber die Zeiten und Zeichen haben sich gewandelt: Niemand kann sich dieser Tage seiner Rolle mehr sicher sein, und seiner Identität sowieso nicht. Sind die Männer in diesem Film eigentlich noch auf der Jagd oder schon längst selbst zu Gejagten geworden? Dieser Krise ist noch schwerer zu entkommen als dem Feind im Rücken oder, noch schlimmer, einem bald vergifteten Fluss.
Seit mehr als 50 Jahren zeichnen seine unsichtbaren, weil psychischen Kratzer fast jeden Westernhelden. Das muss wohl so sein, wenn man die eigene Rolle hinterfragen muss und wenn, wie in jeder Krise, die Wunden wichtiger sind als die Siege. Vor allem aber, wenn es nichts mehr zu erreichen gibt, nicht hinter dem Horizont und schon gar nicht im eigenen Leben. In The Sisters Brothers sind die vier Männer am glücklichsten, wenn sie der Tragödie am nächsten sind. Gerade so, als hätten sie die Rollen, die sie eine halbe Ewigkeit und ein ganzes Leben lang haben spielen müssen, kurz ablegen können. Keine Helden mehr.
Auf ihrer blutigen Reise in den Süden begegnen die Sisters-Brüder der einzigen Frau in diesem Film, der eine größere Rolle zukommt. Dafür gehört ihr in einer zynischen Umkehrung der Macht, als Reminiszenz an den Klassiker Johnny Guitar, eine ganze, nach ihr benannte Stadt. Während eine andere wie bei John Ford zu Hause auf das Ende wartet.
Info
The Sisters Brothers Jacques Audiard Frankreich/Spanien/USA 2018, 122 Minuten
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