Arthouse „Music“ heißt der neue Film von Regisseurin Angela Schanelec. In ihm erzählt die für ihre fordernden Filme bekannte Regisseurin, wie ein moderner Ödipus überleben könnte
Die Aufseherinnen des Gefängnisses in Angela Schanelecs neuem Film „Music“ sind selbst Gefangene
Foto: Grandfilm
Wer im Kino etwas sieht, dem entgeht auch immer etwas. Nicht nur außerhalb des Kinosaals, sondern auch was man auf der Leinwand nicht zu sehen bekommt. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Nehmen wir zum Beispiel eine junge Frau und ein Mädchen, die nebeneinander auf der Couch sitzen. Es ist Sommer und ihnen ein wenig langweilig. „Was willst du machen?“, fragt die Frau. „Musik hören. Den Erlkönig. Und du sollst dazu tanzen“, antwortet das Mädchen und lässt die Widerrede, dass „man darauf nicht tanzen“ könne, nicht gelten. „Warum nicht?“ Eben. Also steht die Frau auf und schaltet die Musik ein, doch während Schuberts rasanter Ritt durch die Nacht erklingt, bleibt die Kamera starr auf da
das Mädchen gerichtet. Den Erlkönig-Tanz muss man sich selbst vorstellen.Mein langsames Leben (2001) heißt dieser Film, in dem Angela Schanelec wie in allen ihren Arbeiten konventionelle Erwartungshaltungen bis hinein in einzelne Einstellungen unterläuft. Indem etwa das Erwartbare nicht zu sehen ist. Schanelec nennt das die „Lust an der Wirklichkeit, auf der Suche nach etwas Wahrheit.“ Und sie hat recht. Das wahre Leben hat keine Höhepunkte. Es liefert hauptsächlich Banalitäten, Anstrengungen, Stehsätze, Verpflichtungen. Das Spannende daran ist, dass das nicht weniger spannend ist. Nur dass man sich im Kino daran gewöhnt hat, sich damit nicht auseinanderzusetzen. Den Filmen Angela Schanelecs hingegen muss man sich aussetzen.Eine lose Abfolge von TagenErwartungsgemäß arbeitet Schanelec auch in ihrem jüngsten Film Music, der auf der diesjährigen Berlinale seine Premiere feierte und mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, mit derartigen Raum-Zeit-Blöcken. Music präsentiert sich als lose Abfolge von Tagen, Stunden, Augenblicken, die auf keinen Höhepunkt zusteuert.In der ersten Einstellung, die knapp zwei Minuten dauert, sieht man Nebelschwaden über einen schütter bewaldeten Berghang ins Tal wabern. Ein göttliches Donnergrollen begrüßt irgendwo in Griechenland, irgendwann in den 1980er-Jahren ein Neugeborenes, ein Mann lässt sein Kind zurück, um die Mutter zu retten. Vergebens. Ein rettender Samariter und seine Frau adoptieren den Jungen. Sie nennen ihn Jon. Jahre später wird der leibliche Vater, an dem die Lebensjahre offensichtlich spurlos vorübergezogen sind, durch die Hände des eigenen Sohnes, den er nie gekannt hat, zu Tode kommen.Im Gefängnis lernt Jon (Aliocha Schneider) die Aufseherin Iro (Agathe Bonitzer) kennen. Die gefangenen Männer tragen Weiß, die Aufseherinnen Schwarz. Doch auch die Frauen sind Gefangene, laufen im betonierten Innenhof beim Tischtennis-Spiel im Kreis. Iro kümmert sich um Jon, nimmt für ihn auf einem Kassettenrekorder Musikstücke auf. Monteverdi. Bach. Pergolesi. Ob diesem tragischen Ödipus zu helfen ist, muss jedoch offen bleiben. Können seine seit der Geburt wunden Füße heilen? Iro kauft für ihn eine Salbe. Sie würde nicht helfen, meint die Apothekerin, nur die Schmerzen lindern. „Die Freuden der Liebe/ Sie währen nur einen Augenblick/ Des Herzens Leid dafür ein Leben lang“, wird später, am Beginn eines halbstündigen Epilogs, eine junge Frau irgendwo in einer Berliner Küche singen. Sie ist Jons und Iros Tochter. Heilt nicht die Zeit, sondern gar die Musik alle Wunden?Wie alle Filme Angela Schanelecs stellt auch Music mehr Fragen, als er Antworten gibt. Das zeichnet auf den ersten Blick die scheinbare Rätselhaftigkeit von Schanelecs Werk aus, obwohl es nicht rätselhaft ist. Schanelecs Filme sind verdichtete Erzählungen, in denen aus einzelnen Szenen, Tönen, Sätzen und Gesten mehr zu erfahren ist, als durch eine dramaturgisch konventionell erzählte Handlung.Eingebetteter MedieninhaltWiederholt und gerne werden die Filme von Schanelec als „sperrig“ oder „spröde“ beschrieben, dabei widersetzen sie sich bloß jener Konformität der Bilder, der man sich perfekt angepasst hat. Sie erfordern ein hohes Maß an Konzentriertheit, weil sie selbst in jeder Einstellung konzentriert und äußerst präzise gestaltet sind. Das macht ihre Filme zu einer Herausforderung, auf die man sich erst einlassen muss. Gelingt dies, wird man in höchstem Maße belohnt.Die Faszination von Schanelecs Filmen liegt aber natürlich nicht nur in ihrer elliptischen Erzählweise, sondern in den Fragen, die sich dadurch stellen: Ist es überhaupt möglich, sich in dieser Welt von den Verhältnissen wieder zu lösen, in die man, wie der moderne Ödipus in Music, geworfen wurde? Und damit von Abhängigkeiten. Von Arbeit, Beziehungen, Familien, Kindern. Sich das Leben also so zu gestalten, dass man immerhin noch daran glauben kann, es selbst gestalten zu können? Auch wenn sie nicht wüssten, was sie wollen, wüssten sie immer genau, was sie nicht wollen, schrieb Ulrich Köhler einmal über Schanelecs Charaktere. Man könnte auch sagen: Sie erfüllen keine kapitalistischen Erfordernisse.Sind Schauspieler automatisch Lügner?Deshalb besitzt auch keine der Figuren Schanelecs eine Lebensgeschichte als Arbeitsbiografie, wie man sie im Spielfilmkino erwarten würde. Es sind Filme, in denen vor allem häufig Frauen weniger eine Handlung in Gang setzen als sich in ganz konkreten Situationen wiederfinden. In Ich war zu hause, aber... (2019) spielt Maren Eggert eine aus der Lebensbahn geworfene Mutter zweier Kinder, was man ihr jedoch nicht anmerkt, weil sie es sich nicht anmerken lassen möchte. Als sie sich ein Fahrrad kauft und damit nicht zufrieden ist, hat sie es „unter falschen Voraussetzungen“ erstanden. Alles ist falsch für sie, so auch die Inszenierung eines Regisseurs, dem sie zufällig begegnet. „Wenn ein Schauspieler spielt, dann ist das immer eine Lüge. Weil er etwas tut, was er nicht wirklich tun muss.“ Das klingt so banal wie kleinlich, doch der Regisseur hat echte Sterbenskranke neben Tänzerinnen gefilmt, weshalb die Frau sich in Rage redet: „Die Lüge darf nicht auf die Wahrheit stoßen, weil sie alle lächerlich und klein macht.“ Weil Lüge und Wahrheit sich nicht vertragen.Die in Wahrheit tragische Figur in Music ist nicht der langsam sein Augenlicht verlierende Jon und seine Lebenslüge, sondern Iro. Allein mit der Wahrheit – dem Wissen um die Tragödie – in einer einsamen Bucht, fast nackt und im buchstäblich letzten Augenblick eine Echse am Knöchel.Angela Schanelec, selbst ausgebildete Schauspielerin, ist auf der Suche nach dieser Wahrheit: in den Bildern, mit den für sie typischen langen Einstellungen, in den oft harten Schnitten. Aber auch im Spiel der Darsteller, das oft von jeder Sprachmelodie befreit anmutet. Music ist ein Film über die Sprachlosigkeit schlechthin. „Die Erzählung entwickelt sich über das Unausgesprochene“, so Schanelec, „es entsteht, weil es keine Sprache dafür gibt.“ So wie für die meisten Dinge im Leben die Worte fehlen. Die archaische Tragik des Ödipus mag einen sprachlos zurücklassen, und doch liegt der wahre Schrecken erst im durch diese Unfassbarkeit hervorgerufenen Schweigen. Die Lieder, die der moderne Ödipus im zweiten Teil von Music singt, komponiert vom kanadischen Musiker Doug Tielli, sind der Versuch, dieses Schweigen zu durchbrechen.Lieder spenden jedenfalls Trost. In Music werden Erinnerungen an Der traumhafte Weg (2017) wach, an einen Film, in dem man nicht zwei Paare „begleitet“, sondern mit ihnen konfrontiert wird. Ein Brite und eine Deutsche lernen einander in den 1980er-Jahren in Griechenland kennen, sie verlieben sich ineinander, doch ihre Wege trennen sich. Der Mann muss zu seiner todkranken Mutter heimkehren – der Tod und das Abschiednehmen sind wiederkehrende Motive bei Schanelec –, die Frau geht zurück nach Berlin, wo dreißig Jahre später eine Schauspielerin (Maren Eggert) ihren Mann verlässt: „Deine Liebe hilft mir nicht.“ Auch Jons Liebe hat Iro nicht geholfen. Im Gegenteil.Irgendwie könnte alles auch ganz anders sein. Jedenfalls wünschen sich das ständig alle, auch im Kino. „Was ist das für ein Auftrag, einsam und allein zu sein?“, möchte in einer erratischen Szene in Ich war zuhause, aber... ein Mann von einer Frau wissen, als diese ihm erklärt, fortan einsam sein zu müssen. Doch sich der Welt zu erklären, gehört zum Schwierigsten, das diese bereithält. Es ist in den Filmen Angela Schanelecs einer jener schmerzhaften Aufträge, die man sich nur selbst erteilt – und genau deshalb annimmt. Placeholder infobox-1
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