Die Filmfestspiele von Venedig sind nicht nur die ältesten, sondern auch die ehrwürdigsten ihrer Art. Denn was die schmale Insel vor der Lagunenstadt als Festivalort von vergleichbaren Schauplätzen unterscheidet, ist ihre Historie. Nur wenige Kilometer vom strahlend weißen Palazzo del Cinema entfernt, wo tagelang diverse US-amerikanische Stars wie George Clooney und Jennifer Lawrence auf dem roten Teppich ihre Filme bewarben, liegt der jahrhundertealte, überwucherte jüdische Friedhof aus dem 14. Jahrhundert. Und das verfallene Grand Hotel des Bains, das Thomas Mann zu seinem Tod in Venedig inspirierte und Luchino Visconti für seine gleichnamige Verfilmung als Schauplatz diente, wartet seit Jahren auf seine Wiedereröffnung.
Es mochte also verwundern, dass sich das geschichtsträchtige Venedig, neben Cannes nach wie vor das wichtigste Filmfestival der Welt, heuer besonders progressiv gab. Das betraf nicht nur den erstmalig ausgeschriebenen Wettbewerb von Virtual-Reality-Produktionen, die als eine mögliche Kinozukunft ausgerechnet auf der mit ihrer dunklen Vergangenheit belasteten Pestinsel Lazzaretto Vecchio präsentiert wurden. Auch in Sachen digitaler Zukunft bewies man einen betont realistischen Blick: So griff Festivalleiter Alberto Barbera die an der Croisette hochgeheizte Diskussion rund um das dortige Verbot von Internetproduktionen auf, indem er klar feststellte, dass auch von Streamingdiensten produzierte Arbeiten selbstverständlich ihren berechtigten Platz auf der Kinoleinwand hätten.
Und so lancierte Netflix neben seiner erfolgreichen Mafiareihe Suburra gleich eine neue Miniserie des oscarprämierten US-Dokumentarfilmers Errol Morris (Fog of War), der in Wormwood dem 1953 unter mysteriösen Umständen verstorbenen CIA-Mitarbeiter und Biochemiker Frank Olson (Peter Sarsgaard) nachspürt. Der Internetriese Amazon wiederum sicherte sich mit Human Flow des chinesischen Starkünstlers Ai Weiwei über globale Migrationsbewegungen die Verwertungsrechte eines – allerdings völlig missglückten und selbstverliebten – Wettbewerbsfilms.
Eine möglichst große Verbreitung verdient hätte sich hingegen Frederick Wisemans Ex Libris – The New York Public Library, nach National Gallery und In Jackson Heights (beide 2014) ein weiteres Paradebeispiel von Wisemans subtiler Methodik der sozialpolitischen Vermessung: Der Direct-Cinema-Pionier zeigt die New Yorker Bibliothek, mithin eine der größten der Welt, nicht als Ort der Aufbewahrung, sondern als einen der Vermittlung, in dessen Zentrum die Mitarbeiter und Besucher stehen. Immer tiefer dringt Wiseman dabei in die innere Struktur der Institution vor, besucht die Außenstellen, hört Vorträgen über Sklaverei ebenso zu wie einer Buchpräsentation von Elvis Costello. Dazwischen beraten Krankenhelfer und Feuerwehrmänner Menschen in Jobkursen. Wie immer ohne Interviews und Kommentar, vertraut Wiseman seiner scharfsinnigen Beobachtung und einer ausgefeilten Montage. Und zeigt wie nebenbei die gesellschaftlichen Verwerfungen, denen eine Bibliothek wie diese im 21. Jahrhundert entsprechen muss.
Selbstverliebter Ai Weiwei
Eine Auszeichnung für den Veteranen des Dokumentarfilms war kaum zu erwarten, doch auch jene für den Neuling am Lido und Verfechter des fantastischen Spielfilms sollte sich als verdient erweisen: Sie ging an den Mexikaner Guillermo del Toro, der mit seinem Liebesmärchen The Shape of Water den Goldenen Löwen gewann und sich damit auch als erster Oscar-Favorit positionierte.
Del Toro erzählt die Geschichte einer stummen Putzfrau (Sally Hawkins), die in einem geheimen US-Forschungslabor arbeitet, wo ein Amphibienmann zu Versuchszwecken gefangen gehalten wird. Vor allem dessen Atmungsorgane – Michael Shannon gibt den brutalen Quälgeist – sind für die Militärs von großem Interesse, erhofft man sich doch im Wettrüsten mit der Sowjetunion dadurch einen entscheidenden Vorteil bei der Raumforschung: America first.
Obwohl in den frühen 1960er Jahren angesiedelt, will del Toro The Shape of Water als Blick auf die amerikanische Gegenwart verstanden haben. Tatsächlich entwirft er das Bild einer Gesellschaft, die dem Fremden nur mit Gewalt zu begegnen weiß. Wie schon in Pans Labyrinth (2006) schließt del Toro die Fantastik und den Realismus kurz: das strahlende Grün des Wassers mit dem stählernen Grau des Labors; die karg eingerichtete Wohnung der Frau mit einem darunterliegenden luxuriösen Filmpalast, in den sich irgendwann das Wasser ergießt, weil es wie die Liebe unaufhaltsam strömt.
Glücklicher Zufall oder glückliches Händchen: Dass sich im Verlauf des Festivals wiederholt thematische Linien abzeichneten – selbst zwischen so unterschiedlichen Autoren wie Morris und del Toro –, war jedenfalls auffällig und durchaus als beängstigende Bestandsaufnahme zu verstehen. Denn die Mehrzahl der Filme übte sich nicht gerade in Optimismus: Rassismus (in George Clooneys Satire Suburbicon und Warwick Thorntons australischem Outback-Western Sweet Country), Paranoia und drohende Umweltkatastrophen dominierten den Wettbewerb.
In Downsizing, einerschwarzen Komödie von Alexander Payne, lässt sich Matt Damon zwecks kleinerem ökologischem Fußabdruck schrumpfen, und in Paul Schraders formidablem First Reformed verschüttet die Angst vor der Zukunft die Gegenwart. Ethan Hawke wird als Pastor von einer jungen Mutter (Amanda Seyfried) um Hilfe gebeten: Angesichts der globalen ökologischen Katastrophe hat ihr Mann jede Zukunftshoffnung verloren. Schrader findet für diese erbitterte Erzählung über Selbstaufgabe verstörende Bilder, wie sie seit langem nicht mehr von ihm zu sehen waren. Für die Zukunft Venedigs allerdings wurden heuer die Weichen gestellt.
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