Schön. Aber was jetzt?

Serien Unser Kolumnist erliegt dem soapigen Herzschmerz von „Virgin River“
Ausgabe 07/2020

Beim Moonlight-Fest in der Dorfscheune, am Ende der sechsten Folge, ist es schließlich so weit. Nicht dass Mel (Alexandra Breckenridge) und Jack (Martin Henderson) sich jetzt endlich küssen, obwohl es doch schon seit vier Wochen knistert. Aber beim „Mingle Dance“ werden mit jedem Ohrwurm nicht nur die Tanzpartner getauscht, sondern auch alte Beziehungen neu gemischt.

Jacks Freundin aus der Nachbarstadt, die dort einen Frisiersalon betreibt, verlangt nun endlich Gewissheit über den aktuellen Beziehungsstatus, über den ehrliche Auskunft zu erteilen Jack wiederum schwerfällt, weil ja Mel inzwischen aufgetaucht ist. Deren ältere Schwester, die ihr kurzfristig aus Los Angeles nachgereist ist, verheimlicht ihr bei ihrem Überraschungsbesuch ihre Eheprobleme, was das angespannte schwesterliche Verhältnis zusätzlich belastet. Und dann stellt sich die entscheidende Frage: Wann legt Mel ihren Ehering, den sie seit ihrer Ankunft in Virgin River trägt, endlich ab, und erfährt man ihr in die Kleinstadt mitgeschlepptes Geheimnis?

Es gibt derzeit keine bessere Soap auf Netflix als Virgin River. Basierend auf der gleichnamigen Bestsellerreihe von Robyn Carr, die sich über nicht weniger als 21 Bände erstreckt, erzählt die Serie die Geschichte der Pflegerin und Hebamme Melinda Monroe, genannt Mel, die es aus vorerst unerfindlichen Gründen in das titelgebende nordkalifornische Kaff verschlägt, wo sie mit einem Wechsel der Perspektive auf das eigene Leben dieses neu in Angriff nehmen will. „In diesem County darf man bei Sichtkontakt auf Eindringlinge schießen“, erklärt ihr gleich zu Beginn der grantige Dorfarzt Doc Mullins (TV-Veteran Tim Matheson), bei dem sie für einen Probemonat angeheuert hat und der sie am liebsten gleich wieder heimschicken würde. Doch genau das ist ja Mels Problem: Sie hat kein Zuhause mehr. Dafür ist ihre neue Blockhütte eine Bruchbude und der Dorfklatsch, wie sie bald erfahren muss, definitiv schneller als das Internet.

Virgin River hat mit Kino wenig bis nichts zu tun, sondern vielmehr mit klassischen Fortsetzungsromanen im Herzschmerz-Format. Anders als im Filmmelodram schlägt das Schicksal in dieser Serie auch nicht in Form von verpassten Chancen und Rettungen in letzter Minute zu, sondern mit dem Alltäglichen: Das Leben in Virgin River, am Ende der westlichen Welt, fließt beinahe so ruhig dahin wie der Fluss selbst. Als Kriegsveteran Jack, Besitzer der einzigen Bar im Ort, Mel von der Landflucht abhalten und ihr deshalb was Schönes am Flussufer zeigen will, fliegt ein Adler herum. „Schön, und was jetzt?“, will Mel wissen. Nichts, das war’s.

Nun ist das Motiv vom zivilisationsmüden Großstädter – oder noch besser: von der Großstädterin wie Anne Heche in Men in Trees (2006 – 2008) –, der bei den Hinterwäldlern sein neues Glück versucht, in Drehbuchwerkstätten bekanntlich seit Jahrzehnten beliebt: Das Aufeinanderprallen der Lebenswelten bietet entsprechendes Konflikt- und Humorpotenzial (mittlerweile weniger beliebt ist übrigens das Landei in der Großstadt). Doch was der Culture-Clash-Komödie als Mittel zum Zweck dient, verhandelt das Melodram als echtes Problem. Auch deshalb lässt sich an Virgin River gut der Wandel ablesen, dem das Subgenre unterliegt: Wurden früher dem verwöhnten Neuankömmling als „fish out of water“ in der Wildnis seine verschüttgegangenen inneren Werte vermittelt, herrscht neuerdings im Städtchen neben Selbstgerechtigkeit auch ein erstaunliches Maß an Selbstreflexion. Wer hier lebt, hat seine guten Gründe, hat sich wie der Doc absichtlich aus Seattle zurückgezogen und ist stolz darauf, dass man bis zum nächsten Milchschaumkaffee 100 Meilen fahren muss.

Meilenwert entfernt ist man in Virgin River aber auch – obwohl gerne Gegenteiliges behauptet wird – von einem tatsächlich guten Leben. Die traumatischen Erinnerungsfetzen, die Mel und Jack in Form von Flashbacks aus Los Angeles und dem Irak zusetzen, sind denn auch Ausdruck jener Altlasten, die es für fast alle Bewohner in unterschiedlicher Weise über zehn Folgen hinweg abzubauen gilt.

Womöglich liegt der Charme von Virgin River eben darin: Natürlich gibt es keine Unumkehrbarkeit des Schicksals, aber die Möglichkeit einer Wiedergutmachung wird einfach für die nächste Folge aufgehoben. Oder für eine zweite, höchst willkommene Staffel.

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