Tentakel und Rassenhass

Serie Die Helden sind Schwarze, die Weißen sind böse: „Lovecraft Country“ ändert die Perpektive des Horrorgenres
Ausgabe 40/2020

Einen ganzen Krieg lang konnte Atticus nicht herausfinden, wer in Korea eigentlich der Feind war. Falls es einen Trick gab, um kommunistische Unterwanderer zu erkennen, fand Atticus ihn nie heraus. Nach seiner Heimkehr war es dann nicht nur den Antikommunisten, sondern den meisten Weißen völlig egal, dass er als Schwarzer in der US-Armee gedient hatte. Denn sie betrachteten Amerika ausschließlich als ihre eigene Heimat. Und machten daraus kein Geheimnis. „Weiße waren seiner Erfahrung nach weit leichter zu durchschauen“, heißt es in Matt Ruffs Roman Lovecraft Country, in dem sich der junge Veteran auf den Weg von Florida nach Chicago macht. „Die Schlimmsten machten sich selten die Mühe, ihre Feindseligkeit zu verbergen. Und wenn sie aus irgendeinem Grund doch ihre Gefühle zu verheimlichen suchten, so legten sie zumeist die ganze List eines Fünfjährigen an den Tag, der sich nicht vorstellen kann, dass jemand ihn anders sieht, als er gesehen werden will.“

Nun geht es auch in Horrorfilmen und -serien traditionell darum, was man als Zuschauer sieht. Ob Monster oder Zombies, das ist fürs Fürchten im Grunde egal. Viel wichtiger ist es, ob man selbst – weil das die Identifizierung mit der Figur auf der Leinwand oder im Fernsehen so will – gesehen, gejagt, gebissen oder getötet wird. Ein ungeschriebenes Gruselgenregesetz Hollywoods besagte jahrzehntelang, dass man sich dabei als Weißer oder weißes „Final Girl“ die besten Überlebenschancen ausrechnen durfte; während man es als Latino oder Afroamerikaner in den Filmen kaum bis in die letzte Runde schaffte. Man hätte immer darauf hinweisen können, dass dem durchaus auch in Wirklichkeit so ist: Nicht den Letzten, sondern den Armen beißen die Hunde.

Zombies diskriminieren nicht

Nie ging es allerdings darum, als wen die Monster ihre Opfer eigentlich ansahen: Für die fantastischen Schreckensgeschöpfe waren, abgesehen von vereinzelten geschlechtsspezifischen Auswahlkriterien, stets nämlich alle Menschen gleich. Das war beinahe tröstlich demokratisch: Alles was zwei Beine hat und davonlaufen kann, ist potenziell gefährdet. Die auf Matt Ruffs Roman basierende HBO-Serie Lovecraft Country (zu sehen auf Sky, deutsche Fassung ab 13. November) verfolgt im Zuge ihrer Vorlage nun einen bemerkenswerten Perspektivenwechsel: In dieser Erzählung gibt es zwar auch Monster und unheimliche Wesen aller Art, aber ausschließlich afroamerikanische Helden und praktisch ausnahmslos böse Weiße, die ihre Feindseligkeit in keiner Weise zu verheimlichen suchen. Nicht einmal die Fünfjährigen.

Alles beginnt damit, dass der Kriegsveteran Atticus (Jonathan Majors) – in der Serie mit dem bezeichnenden Familiennamen Freeman versehen – Mitte der fünfziger Jahre nach langer Zeit seinen Vater besuchen möchte. Doch Montrose (Michael K. Williams) ist verschwunden, seine kleine, mit Fantasyliteratur vollgestopfte Einzimmerwohnung liefert aber immerhin Hinweise auf seinen Verbleib: Die Spur führt nach Devon County, Neuengland, ausgerechnet in jenen Landstrich also, in dem der bekennende Rassist H. P. Lovecraft sein mythenbeladenes Universum rund um Arkham errichtete.

Eine Vorfahrin von Atticus’ verstorbener Mutter stammt von dort, und der vom Vater am Küchentisch zurückgelassene Brief verspricht dem Sohn ein mysteriöses „Geburtsrecht“ sowie ein „geheimes Erbe“ und führt Atticus zu einem ominösen Geheimbund, der sich in okkulten Ritualen übt. Praktischerweise ist Montrose’ Bruder George (Courtney B. Vance) Herausgeber des Safe Negro Travel Guide – einer fiktiven Version des berühmten Green Book –, eines außerordentlich nützlichen Büchleins für reisende Schwarze in Zeiten der Jim-Crow-Gesetze. Und dass sich ihnen mit Atticus‘ Jugendfreundin Letitia (Jurnee Smollett) eine so kluge wie kampfwillige Gefährtin anschließt, wird sich im Laufe der Episoden noch als äußerst zweckdienlich erweisen.

Lovecraft Country erinnert in seiner Struktur an eine Anthologie, in der die einzelnen Episoden zwar lose miteinander verknüpft sind, aber wie in Matt Ruffs Vorlage auch eigenständig als Mini-Erzählung funktionieren. Auf den Familienhorrortrip folgt eine Spukhausgeschichte rund um Letitias neue Immobilie in einem weißen Stadtviertel, in dem ihr als schwarzer Pionierin der Hass der Rassisten entgegenschlägt; dann eine in Museumskatakomben führende Expedition mit Dämonenkontakt, und so weiter, bis sich am Ende der Kreis schließt. Dass Ruff aus diesem Stoff eine Fernsehserie hatte machen wollen, ehe er seinen mit bissigem Humor gespeisten Roman schrieb, merkt man der nun mehr existierenden Serie trotz einiger markanter Änderungen deutlich an.

Das Bemühen um Gegenwartsbezug erstreckt sich auf vielerlei Ebenen: Der Soundtrack verknüpft Etta James und Big Maybelle mit Rihanna und Cardi B, Sex und Splatter kommen nicht zu kurz, und wer eine klare Vorstellung davon hatte, wie Lovecrafts Shoggoths aussehen, ist diese nun los. Dennoch ist diese Aktualisierung, nebst manchen damit einhergehenden Einbußen, höchst notwendig: In einer in den fünfziger Jahren spielenden historischen Erzählung mag es noch genügen, auf Rassismus, Segregation und fehlende Minderheitenrechte hinzuweisen; als aktuelle Serie geht es Lovecraft Country um das gegenwärtige Einfordern tatsächlicher Gleichstellung und Anerkennung.

Aus einer Horrorserie mit Atticus Freeman als weißem, „durchschnittlich privilegiertem“ Collegestudenten würde man vermutlich auf dem halben Weg nach Massachusetts wieder aussteigen. Die Drehbuchautorin und Showrunnerin Misha Green, die bereits mit Underground (2016 – 2017) eine TV-Serie über das historische Fluchtnetzwerk für Sklaven in die Nordstaaten schrieb, sowie ihre Produzenten J.J. Abrams und Jordan Peele (Get Out, Wir) wissen aber natürlich sehr gut, dass es in Lovecraft Country – auch als Genrestück – um mehr gehen muss als um das Austauschen der üblicherweise weißen durch afroamerikanische Charaktere. Und dass die oft eingeforderte Umschreibung des weißen amerikanischen Traums derart nicht gelingen kann, weil dieser Traum nicht mehr umzuschreiben ist.

Aber dass es möglich ist, diesem Mythos – so wie jenem von Lovecraft – ein eigenes Narrativ entgegenzusetzen, eine andere Lektüre anzubieten, das haben die Autoren sich sehr wohl zur Aufgabe gemacht. Mit einer eigenen Erzählung, die nur einem selbst gehört. Sich mit den Geistern und den Monstern auseinanderzusetzen, die einen seit Generationen verfolgen, und sich buchstäblich mit ihnen zu konfrontieren. Unweigerlich fällt einem dazu die bemerkenswerte Szene in Spike Lees Malcolm X ein, in der Denzel Washington als Aktivist und Bürgerrechtler auf dem Campus der Columbia University von einer jungen weißen Frau angesprochen wird: Ihr Herz schlage für die Bewegung, weshalb sie unbedingt seinen Kampf unterstützen wolle. „What can I do to help?“, fragt sie. Seine Antwort: „Nothing.“

Erst hinsehen, dann ändern

„Du bist in eine Gesellschaft hineingeboren, die dir mit brutaler Offenheit und auf vielfältigste Weise zu verstehen gibt, dass du ein wertloser Mensch bist“, so beschrieb James Baldwin in seinem Essayband The Fire Next Time (1963) in Form eines Briefes an seinen jugendlichen Neffen die soziale Verfasstheit der USA. Und so wertlos erscheinen eben Atticus, George und Letitia für alle Einwohner der „Sundown Towns“, das sind die Städte, in denen sie sich als Schwarze nach Sonnenuntergang besser nicht mehr aufhalten, um nicht verprügelt oder erschossen zu werden – und zwar nicht nur von den Einwohnern, sondern auch vom Sheriff, der sie bis an die Stadtgrenze verfolgt.

Baldwin, der zuletzt im und durch das Kino – etwa mit Raoul Pecks Dokumentarfilm I Am Not Your Negro (2017) und Berry Jenkins’ Adaption If Beale Street Could Talk (2018) – wiederentdeckte Schriftsteller, spielt auch in Lovecraft Country eine Rolle. In der ersten Episode, während der Fahrt in die Wälder Neuenglands, gibt es eine längere Passage, in der Baldwin im Originalton zu hören ist. Sie stammt aus der berühmten öffentlichen Debatte von 1965 mit dem rechtskonservativen Ideologen William Buckley jr. über historischen und aktuellen amerikanischen Rassismus. Der Ausschnitt liefert Lovecraft Country gewissermaßen ein geistiges Routenbuch als Ergänzung zum praktischen Safe Negro Travel Guide. Während Baldwins Rede („I find myself, not for the first time, in the position of a kind of Jeremiah“) zieht die Landschaft vorüber, man sieht US-amerikanischen Alltag: in gelbes Neonlicht getauchte Burgerstände, an denen Afroamerikaner streng getrennt von Weißen bedient werden; rassistische Aunt-Jemima-Werbeplakate für die besten Pancakes; eine lange Reihe schwarzer Arbeiter an einer Bushaltestelle vor einem Plakat mit einer weißen Mittelklassefamilie, die sich strahlend lächelnd über ihr neues Automobil freut.

Zum Serienstart vor wenigen Wochen gab es wohl keine deutschsprachige Rezension, die auf den Hinweis verzichtete, dass die „wahren“ Monster dieser Serie die weißen Rassisten seien. Oberflächlich betrachtet mag das auch stimmen, vor allem dann, wenn man wie im Horrorgenre üblich Gut und Böse fein auseinanderhalten möchte. Doch Lovecraft Country hinterfragt – wie das Jordan Peele bereits mit seinem Mysterythriller Wir getan hat – auch diese Dichotomie, spätestens wenn das Familiengeheimnis immer düsterer und Martin Luthers Kings Traum von der Gewaltlosigkeit („Es wird niemanden unter uns geben, der sich erheben und der Verfassung unserer Nation widersetzen wird“) immer unwahrscheinlicher wird.

In der fünften Episode, die den Titel Strange Case trägt und von der aus Liberia stammenden US-Regisseurin Cheryl Dune inszeniert wurde, erfährt Letitias Schwester Ruby (Wunmi Rosako) den grausigen Prozess der Hautwandlung am eigenen Leib, indem sie das Aussehen einer weißen Kaufhausangestellten annimmt. Mit dem bereits aus der ersten Episode bekannten Gesicht der Hinterwäldlerin (Jamie Neumann) aus Massachusetts bekommt sie nun sogar das Softeis gratis. Und kann an ihrem Chef, der sie als Afroamerikanerin nicht einstellen wollte, blutige Rache üben.

Es ist eine der stärksten Folgen, weil sie paradigmatisch den Kreislauf von Angst und Gewalt, auf den schon Baldwin hinwies, am deutlichsten vor Augen führt: „Not everything that is faced can be changed; but nothing can be changed until it is faced.“ Lovecraft Country erzählt, verpackt in eine Horror-Mystery-Geschichte, von ebendiesem Prinzip des Sehens und Gesehenwerdens, das jeder Veränderung vorausgeht. Man muss nur hinschauen.

Info

Lovecraft Country Misha Green, J.J. Abrams , Jordan Peele HBO 2020, zu sehen auf Sky, deutsche Fassung ab 13. November

Lovecraft Country Matt Ruff Anna und Wolf Heinrich Leube (Übers.), Carl Hanser Verlag 2018

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