Alle rechnen mit dem Ernstfall

Großbritannien BP ist eine Zeitbombe für die Finanzwelt. Das Unternehmen refinanziert sich über Kreditderivate und Pensionsfonds, die jetzt zu Ungunsten ihrer Klienten heftig verlieren

Was mit dem unabwendbaren Fall der US-Bank Lehman Brothers im September 2008 als Weltfinanzkrise begann, kann mit dem absehbaren Fall von BP in die nächste Runde gehen. Der britische Multi ist eine finanzielle Zeitbombe, nicht nur für Großbritannien, aber vor allem für das Vereinigte Königreich. Die Kosten des Öl-Desasters im Golf von Mexiko werden für BP auf bis zu 70 Milliarden Dollar geschätzt.

Für die Briten ist BP so etwas wie eine nationale Institution, die größte Aktiengesellschaft des Landes, der strahlendste Blue Chip am Londoner Aktienmarkt. Viele meinen, BP sei ein Ölkonzern. Das stimmt. BP fördert Öl und Erdgas, betreibt Pipelines und Raffinerien – weltweit. Zugleich aber ist BP ein Finanzunternehmen, eine international agierende Bank, die wie Enron oder GM auf den internationalen Finanzmärkten operiert.

Von AA auf BBB

Weil offiziell kein Finanzinstitut, ist British Petroleum im Reich der OTC-Geschäfte unterwegs, die außerhalb jeder Börse stattfinden, unreguliert und unkontrolliert. Man refinanziert sich mit verbrieften Kreditderivaten der riskanten Art, mit CSOs nämlich – Collaterized Synthetic Obligations –, hinter denen keine Vermögenswerte, sondern nur Kreditderivate stehen, und treibt schwunghaften Handel mit diesen Finanzprodukten. Mindestens 18 Prozent der weltweit umlaufenden Papiere dieser Kategorie werden von BP gehalten oder über Beteiligungen bedient. Wer will, kann sich daran erinnern, dass die weltweite Finanzkrise durch eine Pleitenserie bei verbrieften Derivaten (CDOs und CDSs) ausgelöst wurde. Nur sind bei den CSOs die Risiken weit größer, die Kredithebel noch länger, Regulierungen unbekannt.

Mit anderen Worten: Wenn BP pleite geht, hat das gobale Folgen. Wie beim Absturz von Lehman Brothers weiß angeblich niemand, wie hoch BP insgesamt verschuldet, wer in welche Zockerspiele mit BP-Krediten verstrickt ist. Da der Konzern aber als Perle in der Krone der britischen Finanzindustrie gilt, darf man vermuten – es sind alle dabei, die Rang und Namen in der internationalen Finanzwelt haben. Die nächste Blase kommt bestimmt, und sie platzt bestimmt. Nur eine Frage der Zeit. Eher von Wochen als von Monaten.

Das Anlagevermögen von British Petroleum liegt derzeit bei 240 Milliarden Dollar. Viele Ölfelder und Beteiligungen in aller Welt stehen zum Verkauf. Der Konzern braucht Geld, mindestens zehn Milliarden Dollar sofort. Seit Ende April hat das Unternehmen die Hälfte seines Börsenwerts verloren. Ein strategischer Investor sollte her, möglichst ein arabischer Staatsfonds. Die Libyer wollen die Option ziehen, aller anderen scheuen das Risiko. Und Gerüchte allein über das Einsteigen arabischer Ölmilliardäre können die Rating-Agenturen nicht überzeugen.

Fitch, die kleinste der Großen Drei, hat nun am 15. Juni die Kreditwürdigkeit des Öl-Magnaten drastisch herab gestuft, und das zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen, diesmal um volle sechs Ränge, von AA auf BBB. Wenn die beiden Großen – Moody’s und Standard Poor’s – nachziehen, hätten BP Anleihen Ramsch-Status wie griechische Staatspapiere. Allerdings haben große Investoren beider Agenturen wie Warren Buffet zugleich Milliarden in BP-Aktien und Obligationen angelegt. Daher die Zurückhaltung bei Moody’s und Standard Poor’s.

Keine feindliche Übernahme

Inzwischen musste BP dem Druck der US-Regierung nachgeben und sich auf einen Garantiefonds in Höhe von zunächst 20 Milliarden Dollar einlassen. Mindestens bis zum nächsten Jahr wird BP keine Dividenden mehr zahlen, eisern sparen und Tausende von Jobs streichen, die ersten 5.000 schon 2010. Viel spricht für die Vermutung, dass die Explosion vom 20. April auf die gnadenlose Politik der Kostensenkung zurückgeht. Sicherheit und Sorgfalt kosten bekanntlich Zeit und Geld. Wer den Kapitalismus ob seiner Effizienz preist, weiß schlicht nicht, wovon er redet. Oder er weiß es und lügt sich in die Tasche.

In London bereitet man sich auf den Ernstfall vor. Unter ohrenbetäubendem Schweigen, begleitet von krachenden Dementis, wird an Notfallplänen gearbeitet. Ein Zusammenbruch oder die Übernahme von BP wäre für die Briten eine Katastrophe. Weltweit galten BP-Aktien als sichere und lukrative Geldanlage. BP zahlte regelmäßig, Quartal für Quartal, Spitzendividenden.

Die Pensionsfonds, größter institutioneller Anleger auf den internationalen Finanzmärkten, kauften und halten BP-Aktien in Größenordnungen. Und im britischen Rentensystem spielen Pensionsfonds eine Schlüsselrolle. Nur sind eben kapitalgedeckte Altersrenten alles andere als sicher. Als 2008 die Immobilienblase in den USA platzte, war es dort um viele Pensionsfonds geschehen, zum Nachteil von Beitragszahlern und Pensionären. Für britische Pensionsfonds, die seit Jahr und Tag in BP-Aktien investieren, ist die Ölkatastrophe ebenfalls ein finanzielles Desaster. Etwa ein Sechstel aller Dividenden, die im Königreich ausgezahlt werden, stammt von BP! Die Fonds haben also dreifach verloren – an Vermögen durch den freien Fall der BP-Aktien, durch ausbleibende Dividenden und eine schrumpfende Kreditwürdigkeit.

Die Pensionsfonds haben bereits mit Bankaktien viel Geld verloren, nun kommt BP dazu. Wenn man die möglichen Verluste auf eine durchschnittliche Pension von 12.000 bis 13.000 Pfund pro Jahr umrechnet, kommt man leicht auf 800 bis 1.000 Pfund weniger. Von daher hat die Regierung von Premier Cameron gar keine Wahl. Wenn BP in die Knie geht, muss sie eingreifen – mit einem neuen Rettungspaket in Milliardenhöhen. Was britischen Großbanken recht war, muss BP billig sein. Das bedeutet neue Staatsschulden und noch irrwitzigere Sparpakete.

BP darf nicht sterben, denn BP gehört zu den mit Abstand größten Steuerzahlern auf der Insel und kontrolliert einen Großteil der lebenswichtigen Infrastruktur des Inselreichs wie das Forties Pipeline System, das mehr als 50 Ölfelder in der Nordsee verbindet, oder die Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline, die den Transit von den Ölquellen des Kaukasus nach Westeuropa ermöglicht. David Cameron verkündet daher, seine Regierung werde alles tun, um eine Übernahme von BP durch chinesische, arabische oder russische Ölkonzerne zu verhindern. Zulässig erscheinen allein die Amerikaner wie Exxon oder Chevron, die schon nach Filetstücken schielen. Fällt BP den US-Giganten in die Hände, ist es vorbei mit Rücksichten auf Pensionsfonds oder sonstige britische Belange. In wenigen Tagen, am 27. Juli, muss BP mit den Zahlen für das zweite Quartal 2010 herausrücken. Sie werden verheerend sein. Der Fall zeigt, wie zwei völlig obsolete Kernelemente des heutigen Kapitalismus – eine fossile Energiewirtschaft und die weltweite Finanzspekulation – uns in die nächste Katastrophe treiben.

Michael R. Krätke ist Professor für Ökonomie an der Universität Lancaster

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