Die meisten Mitgliedsländer der Europäischen Union, 20 von heute 27, haben einen Mindestlohn. Auch in vielen OECD-Ländern, die USA, Kanada und Australien inklusive, gibt es seit langem gesetzliche Mindestlöhne. Nur die Bundesrepublik bildet eine Ausnahme. Hierzulande waren gesetzlich festgelegte Standards - wie es sie seit 1958 auch in der DDR gab - entbehrlich, solange die Gewerkschaften stark und die Flächen- beziehungsweise Branchentarifverträge in der Tat flächendeckend und branchenübergreifend verbindlich waren. Sie sorgten dafür, dass Niedrigstlöhne unterhalb der offiziellen Armutsgrenze so gut wie nicht gezahlt wurden (jedenfalls nicht für Vollzeitbeschäftigte).
Weniger als sechs Euro pro Stunde
Bis heute zahlen die Unternehmen in Schweden, Dänemark und Finnland über 90 Prozent der Löhne und Gehälter nach einem verbindlichen Tarifvertrag. In Österreich ist die so genannte "Tarifbindung" noch höher. In Deutschland hingegen sind die Zeiten vorbei, da sich die Beschäftigten auf Tarifverträge verlassen konnten. Das System des Flächentarifs - seit Jahren von den neoliberalen Meinungsmachern unter Dauerfeuer genommen - wurde flächendeckend unterminiert. Mittlerweile werden in Westdeutschland nur noch 60 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt, in Ostdeutschland liegt die Quote bei unter 50 Prozent. Kein Wunder, dass ein gesetzlich regulierter Mindestlohn auf die Tagesordnung kommt. Selbst die schwarz-rote Koalition hat versprochen, darüber nachzudenken - es wird Zeit.
Faktisch und rechtlich hätte eine Bundesregierung, die eine aktive Lohn- und Beschäftigungspolitik betreiben wollte, dazu jede Handhabe. Sogar eine gesetzliche Grundlage, um Mindestlöhne festzulegen, existiert in diesem Land. Man brauchte sie nur zu nutzen. Das hieße freilich, sich in die Lohnpolitik offen einzumischen, statt nach dem üblichen, verlogenen Ritual die "Tarifautonomie" zu beschwören, sich auf die Seite der Arbeitgeber zu schlagen und in das Lied von den angeblich zu hohen Löhnen einzustimmen.
Wenn eine Regierung ihre Verantwortung für Einkommen und Beschäftigung ernst nimmt, sollte sie tarifliche Stundenlöhne von weniger als sechs Euro pro Stunde nicht tolerieren. In den Niederlanden, wo eine Exekutive berechtigt ist, "Lohnmaßnahmen" zu ergreifen - sprich: Mindest- wie auch Höchstlöhne festzusetzen -, wird sie auch direkt für die Einkommenspolitik haftbar gemacht. Deshalb gibt es dort seit 1968 einen gesetzlichen Mindestlohn, den dritthöchsten in Europa nach Frankreich und Luxemburg: 8,08 Euro/Stunde Über eine dadurch ausgelöste wirtschaftliche Fallsucht ist nichts bekannt.
In den meisten EU-Ländern sind Mindestlöhne nicht nur Gesetz - sie werden auch regelmäßig den Lebenshaltungskosten angepasst. Die Logik ist zwingend: Wenn eine Regierung nicht den Mut aufbringt, den Auftrieb der wichtigsten politischen Preise - etwa bei Strom und Gas, bei den Mieten und den Fahrpreisen in öffentlichen Verkehrsmitteln - zu zügeln, muss sie die Mindestlöhne erhöhen, wie das in fast allen OECD-Ländern geschieht. Deutschland gehörte und gehört zu den Ausnahmen, selbst Großbritannien - wie die Niederlande wegen eines Jobwunders gepriesen - garantiert seinen Bürgern einen Mindestlohn, der sie vor Armut trotz Arbeit schützen soll. 1999 unter der Labour-Regierung eingeführt, stieg er von anfangs 5,29 auf heute 7,36 Euro pro Stunde, ohne dass dadurch der Arbeitsmarkt kollabiert wäre.
In Deutschland wurde derweil unter Rot-Grün über einen Niedriglohnsektor debattiert, der als Patentrezept galt, um Langzeitarbeitslose ohne Berufsausbildung unterzubringen und Jugendarbeitslosigkeit zu senken. Inzwischen gibt es Niedriglöhne en masse, eine Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und eine wachsende Zahl von "arbeitenden Armen" in Deutschland. Was uns an "amerikanischen Verhältnissen" noch fehlt, ist ein gesetzlicher Mindestlohn. Nur gilt der eben als Jobkiller, der den Export von Arbeitsplätzen ins Billiglohn-Ausland beschleunige, wie es heißt. Allerdings verfügen die Länder, in denen sich die wichtigsten Absatzmärkte der deutschen Exportindustrie befinden und in denen zugleich die wichtigsten Konkurrenten der deutschen Wirtschaft auf den heimischen Märkten sitzen, alle über einen Mindestlohn. Die "Jobwunder" in den EU-Ländern, in denen ein gesetzlicher Mindestlohn besteht (und ständig erhöht wurde), wie in Irland, den Benelux-Staaten oder in Großbritannien, zeigen zur Genüge, dass von einem direkten Zusammenhang zwischen Mindestlohn und Arbeitsplatzvernichtung keine Rede sein kann. Luxemburg, das Land mit dem höchsten Mindestlohn in EU wie OECD, ist keineswegs ein verarmter Landstrich, den das Kapital fluchtartig verlässt.
Mehr als 4,6 Millionen Menschen
Es gibt zwei konventionelle Maßstäbe für die Effektivität von Mindestlöhnen. Der erste ergibt sich aus der Frage: Wie verhält sich der Mindest- zum Durchschnittslohn? In Irland liegt das Minimaleinkommen immerhin noch bei 50 Prozent des durchschnittlichen, in Belgien und den Niederlanden bei 46 Prozent, in Großbritannien bei fast 38, in den USA bei 33. Wenig genug.
Das zweite Kriterium wäre: Wie viel Vollzeitbeschäftigte werden eigentlich mit einem Mindestlohn bezahlt? Zumeist sind es wenige, in den Niederlanden und in Großbritannien nur etwa zwei Prozent - in Spanien weniger als ein Prozent der Beschäftigten. Frankreich sorgt in dieser Hinsicht für die Ausnahme mit dem zweithöchsten Mindestlohn der EU (8,27 Euro/Stunde) und dem höchsten Anteil der Mindestlohnempfänger (15,6 Prozent der Beschäftigten). Die Idealformel lautet: Ein relativ hoher Mindestlohn oberhalb der Armutsgrenze für möglichst wenig Beschäftigte.
Der DGB schlägt einen Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro pro Stunde vor und will zugleich die Verbindlichkeit der Tarifverträge (wieder-)herstellen - Linkspartei und WASG fordern acht Euro pro Stunde. Gemessen an den gebräuchlichen Werten für das Existenzminimum in Deutschland (wie der EU) - 60 Prozent des Durchschnittseinkommens - erscheint das zu wenig, wäre jedoch ein gewaltiger Fortschritt angesichts des florierenden Niedriglohnsektor. Jeder zehnte Beschäftigte, in Ostdeutschland sogar jeder fünfte - insgesamt über 4,6 Millionen Menschen - erhielte auf einen Schlag eine merkliche Lohnerhöhung, die sofort und vollständig in die Binnennachfrage fließen könnte. Überdurchschnittlich profitieren würden Frauen und gering Qualifizierte.
Ein Mindestlohn sollte auch dazu dienen, offene oder heimliche Lohnsubventionen - wie hierzulande unter dem Hartz IV-Regime beim Arbeitslosengeld II üblich - zu verhindern. Nichts spricht gegen Steuersubventionen für Leute, die niedrige und niedrigste Arbeitseinkommen beziehen - und dafür gibt es in etlichen EU-Ländern, selbst in den USA, funktionierende Beispiele genug. Aber wenn schon, dann sollten die öffentlichen Gelder den Einkommensarmen zugute kommen und nicht denjenigen, die sie zu Hungerlöhnen beschäftigen.
Gesetzliche Mindestlöhne in Europa und in den USA
Angaben in Euro/ Stand: Dezember 2006
Für die USA gilt, dass die Bundesstaaten vom Niveau des Nationalen Mindestlohns nach oben hin abweichen können, das ist in 18 Bundesstaaten der Fall, vor allem an der Ost- und an der Westküste.
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