Aufstand der Ökonomen und andere Revolten

Perestroika Der Wille zum Bruch mit der etablierten "neoklassischen" Wirtschaftslehre ist da - allein es fehlen die Alternativen

Im Juni 2000 begann in Paris ein Aufstand. Es waren Elitestudenten, die gegen das rebellierten, was ihnen Prestige, Geld und Karriere versprach: Gegen die Art von Ökonomie, die ihnen an den Pariser Eliteuniversitäten eingetrichtert wurde. Diese herrschende Lehre der Ökonomie, die Neoklassik, die weltweit die Lehrbücher prägt. Die konventionelle Weisheit, von denen die Wirtschafts- und Finanzpolitik in allen kapitalistischen Ländern bestimmt ist, erschien ihnen als Ansammlung weltfremder Dogmen. Kaum geeignet, die Welt besser zu verstehen, geschweige denn, sie zu verändern.

In einer Internet-Petition an ihre Professoren artikulierten sie ihren Unmut: Sie wollten aus "den Paradigmen imaginärer Welten ausbrechen", sie wollten nicht länger dazu erzogen werden, sich taub und blind zu stellen gegenüber der sozialen Realität, von der die Vertreter der herrschenden Lehre ihre Modellwelten sorgfältig abzuschotten wussten.

Daher der Name, den sich die Bewegung alsbald gab - "Bewegung der ›post-autistischen‹ Ökonomen für eine ›post-autistische‹ Ökonomie". Sie wandten sich gegen den zum Selbstzweck erhobenen Gebrauch formaler Modelle, verlangten sozialwissenschaftlichen Pluralismus statt neoklassischem Monotheismus - empirischen Realismus statt formaler Abstraktion. Die Petition fand weite Verbreitung, und die offizielle Politik in Gestalt des damaligen sozialistischen Kulturministers Jack Lang versprach, die landesweit einheitlichen Curricula überarbeiten zu lassen, während die Galionsfiguren der herrschenden Lehre einem Gegenappell zum Erhalt der reinen, neoklassischen Lehre lancierten - die Bewegung der "Post-Autisten" hielt das nicht auf.

Im Juni 2001 veröffentlichten 27 Ökonomie-Studenten der Universität Cambridge einen Aufruf zur "Öffnung der Ökonomie", den renommierte Ökonomen aus allen Ländern unterschrieben. Ein Internet-Forum und eine Internet-Zeitschrift Post-Autistic Economics Review wurden eingerichtet mit inzwischen mehr als 10.000 Abonnenten aus 150 Ländern. Es gibt heute Netzwerke der postautistischen Rebellen, die bis nach Japan und China reichen. In Deutschland ist die Aufstandsbewegung relativ spät angekommen, erst seit November 2003 gibt es dort einen "Arbeitskreis Post-Autistische Ökonomie", doch stoßen ihre Protagonisten bislang auf wenig Resonanz. Die neoklassische Orthodoxie herrscht hierzulande so unangefochten wie nicht einmal in den USA. Der "Verein für Socialpolitik", der größte Verbund von Ökonomen in Deutschland, hat die studentische Rebellion bisher erfolgreich ignoriert.

Sie wissen, was sie nicht mehr wollen; sie wissen nicht, was sie wollen

Bestenfalls haben die Parteigänger der herrschenden Lehre lakonisch und nach bewährtem Muster reagiert: Um eindeutige Aussagen zu erhalten, brauche man eben die Formalisierung - alles, was die Kritiker verlangten, ließe sich leicht in die neoklassische Modellwelt einbauen. Pluralismus gebe es innerhalb des neoklassischen Paradigmas genug. Im Übrigen habe sich die Ökonomie etwa mit der Theorie des "rational choice" oder der "Neuen Institutionen-Ökonomie" sehr erfolgreich geöffnet. Sie habe sogar Neuland erschlossen und in den übrigen Sozialwissenschaften erheblich an Einfluss gewonnen.

Das stimmt, der "Imperialismus der Ökonomie" - das heißt des neoklassisch geprägten Modell-Platonismus - ist in der Tat auf dem Vormarsch und hat in der Politikwissenschaft unter der Fahne des "public choice" wie der "new political economy" (der Anwendung der neoklassischen Marktlehre auf politische Prozesse in parlamentarischen Demokratien) wohl dotierte Lehrstuhlprovinzen erobert. Überall, wo die Sozialwissenschaftler sich um die Erneuerung ihres Fächerkanons bemühen, sind die Neoklassiker als Vertreter der neuen Universalwissenschaft vom rationalen (Tausch-)handeln schon zur Stelle. Und sie führen sich höchst erfolgreich als "Modernisierer" und "Erneuerer" auf, die an der Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts marschieren.

Im Kampf gegen dieses Establishment haben die Rebellen einen schweren Stand und sind teilweise selbst schuld. Sie wissen, was sie nicht mehr wollten; sie wissen nicht, was sie wollen. Sie wissen, es geht darum, die Ökonomie als Sozialwissenschaft wieder zum Leben zu erwecken, sie mit der realen Welt der Märkte und den real existierenden Kapitalismen zu konfrontieren und den Modell-Platonismus der herrschenden Lehre zu überwinden. Doch sie kommen über die Forderung nach Öffnung für unorthodoxe Ansätze, nach einem methodischen und theoretischen Pluralismus in der Ökonomie nicht hinaus. Da liegt die Schwäche der Aufstandsbewegung, die sich von ihrem vermeintlich übermächtigen Gegner - der neoklassischen Ökonomie - nicht emanzipieren kann. Ihre Mitglieder suchen verzweifelt nach Orientierung, nach geeigneten Vorbildern in Geschichte und Gegenwart. So geraten sie an die wenigen großen Ökonomen wie Schumpeter, Keynes und Sraffa, von denen die herrschende Lehre zumindest in Teilen kritisiert wurde. So suchen sie bei Neo-Ricardianern und Post-Keynesianern nach der verlorenen Einsicht in die ökonomische Realität. In allerjüngster Zeit fangen einige vorsichtig damit an, den verfemten alten Marx wieder zu entdecken. Da aber zeigt und rächt sich, dass sich die Marxisten seit Jahrzehnten mehrheitlich darin gefielen, von Wirtschaft beziehungsweise Politischer Ökonomie nichts zu verstehen, während die offizielle Ökonomie den Marxismus mit Verachtung strafte.

Die Neoklassik in all ihren Spielarten wie der "Imperialismus der Ökonomie" leben davon, dass sie die herrschende Lehre geworden sind. Ihre Vertreter verfügen nicht über eine bessere, empirisch relevante oder logisch konsistente Theorie - aber sie verfügen über Macht und Einfluss im Wissenschaftsbetrieb. Die Ökonomen sind dank der eminent politischen Bedeutung ihres Fachs mittlerweile zu einer Kaste geworden, von der die Welt (mit)beherrscht wird, da sie überall an der Herrschaft, sei sie privat oder formell öffentlich, direkt beteiligt ist. Die Ökonokratie hat heute in den meisten kapitalistischen Ländern das Sagen, sie bestimmt die Richtlinien der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, sie verhindert alles, was der vermeintlichen Logik rationalen Wirtschaftens entgegensteht. Die Technokraten, die heute Großkonzerne, Banken, Börsen und Fonds regieren, sind Produkte jener ideologischen Kaderschmieden, zu denen die ökonomischen Fakultäten weltweit - dem Beispiel der amerikanischen Business Schools nachjagend - geworden oder besser verkommen sind. Im besten Falle sind die dort ausgebildeten Ökonomen Technokraten, die sich für politisch neutral halten, und Vertreter einer vermeintlich universalen sozialen Ingenieurskunde. An diesem Selbstbild und der innigen Anbindung an die vorhandenen Strukturen und Institutionen der privaten (und staatlichen) Macht haben auch die Keynesianer in ihren Hochzeiten einen erheblichen Anteil gehabt.

Den Kamplatz Universität kampflos verlassen

Die Rebellion der jungen Ökonomen hat Chancen, wenn sie Verbündete in den Sozialwissenschaften findet, in der es einen vergleichbaren Aufstand gibt. Diese "Perestroika" richtet sich nicht zufällig gegen eine Ausrichtung der politischen Wissenschaft an der neoklassischen Ökonomie, gegen die mit pseudomathematischen Versatzstücken garnierte intellektuelle Einöde in den führenden Zeitschriften des Fachs, in denen publizieren muss, wer reüssieren will. Sie richtet sich gegen eine Drittmittelforschung, in der die Techniken einer vermeintlichen sozialen Ingenieurskunst mittlerweile die Maßstäbe für relevante und gute Wissenschaft ganz allein bestimmen. Die rebellischen Politologen der Perestroika-Bewegung wollen die Hegemonie der herrschenden Lehre untergraben, sie wollen den stets beschworenen Pluralismus der Theorien haben, den es de facto nicht (mehr) gibt. In Deutschland wird diese Bewegung bis heute nicht zur Kenntnis genommen. Das spricht für die selbstgefällige Borniertheit und Provinzialität der hiesigen Politikwissenschaft.

Die Krise der Hegemonie, die linke Theoretiker so lange herbei wünschten, ist längst da, nur nützt sie im Moment den Rebellen nicht viel. Nun rächt sich bitter, dass die Marxisten jahrzehntelang als Philosophen auftraten, die nicht die Welt, sondern Marx´ Schriften verschieden interpretierten, statt sich auf das Wagnis einzulassen, die Marxsche Theorie so fortzuschreiben, dass sie zur Erklärung der Phänomene des derzeitigen Kapitalismus taugt.

Max Weber könnte sich heute bewerben, so viel er wollte, eine Professur für Politikwissenschaft oder Soziologie bekäme er nicht. Von Karl Marx ganz zu schweigen. Auch die Universität ist ein Kampfplatz, und die Linke, gerade die intellektuelle Linke in Deutschland, hat ihn verlassen, kampflos. Allem Gerede von Hegemonie zum Trotz.


Michael Krätke ...

... studierte Ökonomie und Politikwissenschaft in Berlin und Paris. Er ist heute Professor für Politikwissenschaft und Ökonomie an verschiedenen Universitäten in Deutschland und im Ausland, seit 1981 hauptsächlich in Amsterdam. Mitherausgeber der SPW und der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Fellow des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam. Autor zahlreicher Bücher zur internationalen Politischen Ökonomie.

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