Der Aufstieg der globalisierungskritischen Bewegung begann 1999 im nordamerikanischen Seattle: Tagelange Proteste auf der Straße führten zum vorzeitigen Abbruch eines Ministertreffens der Welthandelsorganisation. Damals bereits forderten Tausende Aktivisten, die WTO entweder abzuschaffen oder zu blockieren. Das scheint der Global Player mittlerweile ganz allein zu schaffen. Nach fast fünf Jahren Verhandlungen ist die 2001 gestartete WTO-Runde gescheitert, die Gespräche bleiben auf unbestimmte Zeit vertagt - es kann Monate oder Jahre dauern, ähnlich wie bei der Uruguay-Runde von 1986 bis 1994, bis weiter verhandelt wird. Ein Debakel, da der für Ende 2006 geplante Abschluss des ersten großen Handelsabkommens innerhalb der WTO nun unerreichbar scheint.
Dabei war gerade den armen Ländern zum Auftakt dieses Welthandelspokers viel versprochen worden: Eine "Entwicklungsrunde" zu ihrem Wohl sollte es sein, die helfen werde, der Armut weltweit Paroli zu bieten. Entsprechend düster fallen im Moment die Prognosen aus: Der Abbruch der Verhandlungen werde die EU gut 100 Milliarden Dollar kosten, Stagnation und Arbeitslosigkeit befördern, so EU-Handelskommissar Peter Mandelson, ein bekennender Freihändler aus Tony Blairs Gefolgschaft. Die eigentliche Zeche aber würden die armen Länder zahlen, denen diese Runde doch gewidmet war.
Die WTO brauchte dringend einen Erfolg - dass es sie gibt, bleibt ihr bisher größter. Selbst ein kleiner Triumph am Rande des G-8-Gipfels in Petersburg war ihr nicht vergönnt. Die Gespräche um den Beitritt Russlands, der einzigen großen Wirtschaftsmacht, die noch nicht zum Club der 149 WTO- Mitglieder stoßen durfte, scheiterten genau dort.
Das Patt zwischen den reichen Industriestaaten des globalen Nordens und den Schwellenländern des globalen Südens, das die WTO straucheln ließ, ist seit dem Debakel der Konferenz in Cancun vom Oktober 2003 bestens bekannt. Nur vordergründig ging und geht es um Zollkonflikte: Respektable Einfuhrzölle auf Industrieprodukte in den Schwellen- und Entwicklungsländern (wo sie in der Tat bis zu viermal so hoch sind wie in den kapitalistischen Industrieländern) versus eindrucksvolle Agrarzölle und Subventionen in den reichen Ländern des Nordens. Man stritt um Prozentsätze: sinkende Agrarzölle hier gegen gekappte Industriezölle dort.
Offiziell sind die Verhandlungen gestrandet, weil die kapitalistischen Hauptländer sich weigerten, einer illustren Gruppe von Schwellenländern Sonderkonditionen einzuräumen, wie sie etwa die EU-Länder ihren ehemaligen Kolonien seit langem gewähren. Tatsächlich aber folgen die Schwellenländer viel zu erfolgreich ihren Entwicklungsstrategien, sind längst keine Agrarländer mehr (der Anteil der Landwirtschaft am Bruttosozialprodukt beträgt in Indien gerade noch 25, in China 15 und in Brasilien gar nur neun Prozent) und drohen - nach bewährtem kapitalistischen Muster - die Weltmärkte mit billigen Massenfabrikaten zu überschwemmen.
Im Hintergrund steht nicht allein die Debatte um eine "gerechte" Weltwirtschaftsordnung, sondern gleichermaßen die Frage, ob ein unbeschränkter Freihandel wirklich die beste aller möglichen Ordnungen ist, wie das eine neoliberal gestimmte politische Klasse behauptet? Diesem Dogma gehorcht die WTO so gut wie die EU: Je offener die Märkte, je "liberalisierter" der Handel, je freier der internationale Wettbewerb, desto besser für alle. Dahinter steht die unbewiesene, nur zu oft empirisch widerlegte Behauptung, die Gewinne aus einem freien Welthandel würden breit verteilt, ungleich zwar, aber doch breit genug, dass alle etwas davon haben - und seien es schlecht bezahlte "Arbeitsplätze".
Im freihändlerischen Weltbild ist Handelsprotektionismus die große Ausnahme oder sollte es doch sein - de facto ist das Gegenteil der Fall. Alle Industrieländer schützen ihre eigene Wirtschaft gegen ausländische Konkurrenz und zwar mit jedem verfügbaren Mittel. Alle betreiben Welthandelspolitik nach dem Muster: Freihandel ist wunderbar - bei den anderen, bei uns nur insoweit, als die nationalen Interessen ungeschoren bleiben. Theoretisch ist der Katechismus vom Freihandel als beste aller Handelswelten längst widerlegt. In der kapitalistischen Weltökonomie ist ungleicher Austausch die Regel, fairer Handel hingegen die Ausnahme. Nichts könnte besser geeignet sein als die Mischung von praktiziertem Protektionismus und selektivem Freihandel, um zu zeigen, dass die sakrosankte Freihandelsdoktrin zwar angebetet, aber kaum geglaubt wird.
Vor einigen Jahren hat die Weltbank eine Studie veröffentlicht, die ganz im Sinne der Freihandelsapologeten behauptete, bei völliger Öffnung der Weltmärkte seien Gewinne von mehreren Hundert Milliarden Dollar pro Jahr für alle zu erwarten. Dementsprechend werden jetzt, nach dem Kollaps bei der WTO, Milliardenverluste prophezeit, die "uns" wegen der ausbleibenden Marktöffnungen entgehen würden. Nüchtern betrachtet, sieht die Sache anders aus, das zeigen eine Reihe neuerer Studien, die gleichfalls der Weltbank zu verdanken sind. Bestenfalls hätte man durch die geplanten Zollsenkungen ein Nettowachstum von etwa einem Zehntel Prozent der Weltproduktion erwarten können - und das vorzugsweise in den asiatischen und einigen mittelamerikanischen Schwellenländern. Bei China und Indien wäre mit einem halben Prozent plus beim Bruttosozialprodukt zu rechnen gewesen, bei den armen Ländern, besonders in Afrika, nicht einmal damit. Sie hätten im Gegenteil weitere Verluste, sogar ein Schrumpfen ihrer Industrien zu erwarten. Auch wenn man der ökonometrischen Weisheit konventioneller Ökonomen folgt, gibt es keinen vernünftigen Grund, die Politik der "Liberalisierung" fortzusetzen - zu einer "gerechteren" Welthandelsordnung führt sie nachweislich nicht.
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