Der Tiger springt noch immer

Schrittmacher China begreift die Wirtschaftskrise als Chance, um der ­hochriskanten Export­abhängigkeit zu entkommen. Das zeigt auch die Tagung des Nationalen Volkskongresses

Gerade hat mit dem chinesischen Neujahrsfest das Jahr des Tigers begonnen. Wenn sein Ende naht, dürfte die Volksrepublik China Deutschland vom Thron des Exportweltmeisters gestoßen und Japan als zweitgrößter Volkswirtschaft der Welt den Rang abgelaufen haben. Im Jahr des Tigers wird China – vor 40 Jahren noch ein unter Verschluss gehaltene Bauernland – die zweite Wissenschaftsnation der Welt sein. Soweit die glorreiche Statistik.

In Peking tagt derzeit der Nationale Volkskongress (NVK), zu dessen Auftakt Premier Wen Jiabao mit der Botschaft erfreute: Man habe als erstes Land die Weltwirtschaftskrise überwunden. Alle Welt hofft auf China, weil es die Weltökonomie aus der Talsohle ziehen kann.

Platzhirsch auf dem US-Markt

Tatsächlich scheint 2009, das zweite Jahr der Krise, für die Volksrepublik auf den ersten Blick ein Boomjahr gewesen zu sein: Um 8,7 Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) offiziell gewachsen, deutlich weniger als die 9,6 Prozent von 2008. In Peking gilt ein Acht-Prozent-Zuwachs als Minimum, um das Riesenreich einigermaßen in der Balance zu halten. Was gelang, weil trotz eines eklatanten Einbruchs der Ausfuhren um 16 und eines Rückgangs der Importe um 11,2 Prozent die Volksrepublik ihren Anteil am Welthandel dennoch erhöhte: Auf mittlerweile zehn Prozent (vor zehn Jahren waren es drei). Fast ein Fünftel des US-Importgüter-Marktes gehört heute den Chinesen, die Hälfte des US-Außenhandelsdefizits resultiert aus dem Chinahandel.

Diese Ausbeute ist nur zum kleineren Teil einer künstlich unterbewerteten Währung zu verdanken. Sehr viel mehr hat das weltweit größte Konjunkturprogramm Wirkung hinterlassen: Es gab umgerechnet 500 Milliarden Euro (570 Milliarden Dollar) von der Zentralregierung, 1,3 Billionen Euro von den regionalen Administrationen plus Hunderte Milliarden aus den Budgets von Staatsunternehmen. Dazu Chinas Banken, die ihr Kreditvolumen seit Ende 2008 verdoppelt haben. Anders als das Weiße Haus, anders als EU-Regierungen brauchten die Chinesen die rasch aktivierten Gelder nicht in marode Banken zu pumpen. Es wurde in generösem Stil investiert und das mit Erfolg. Mehr als zwei Drittel des Wachstums von 2009 sind diesem Kapitalschub zu verdanken, der überwiegend aus öffentlichen, nicht privaten Quellen gespeist wurde.

Wenn irgendetwas, dann offenbarte diese Investitionspolitik während der Krise, dass sich die Regierung Wen Jiabao der Schwächen und strukturellen Defizite ihres Wachstumsmodells vollends bewusst ist. Die Rezession wurde als Chance begriffen, um durch Konjunkturpolitik vorzugsweise Strukturpolitik zu betreiben. Denn das Exportwunder, der Aufstieg zum Exportweltmeister und zur zweitgrößten Industrienation in nur drei Jahrzehnten (gemessen am Beginn der Reformpolitik 1979/80) wird bislang mit einer doppelten Abhängigkeit erkauft: China liefert unschlagbar billige Massengüter in erster Linie für den US-Markt und gibt den Amerikanern billige Kredite, refinanziert also quasi deren Handelsdefizit. Diese Abhängigkeit – vom US-Markt und vom US-Dollar – ist Stärke und Schwäche zugleich. Ein Risiko, das nicht geringer wird, wenn Chinas industrieller Boom weiter auf boomende Exportindustrien ausgerichtet bleibt und sich sehr viel mehr auf wenige urbane Cluster konzentriert, als das in den anderen Tigerstaaten Asiens der Fall ist. Zwischen Stadt und Land, zwischen den südlichen Küstenprovinzen und dem riesigen Rest des Landes tun sich Abgründe auf. Nach wie vor verfügt Reich der Mitte über keine homogene Ökonomie, sondern präsentiert sich als fragiles Konglomerat verschiedener Ökonomien – eher schlecht als recht zusammengehalten von einem Zentralstaat, der alles andere als allmächtig ist.

Über die Hälfte der Gesamtbevölkerung lebt in einer partiell stagnierenden Landwirtschaft, die mit High-Tech-Metropolen wie Schanghai, Guangzhou, Nanjing oder Peking wenig zu tun hat. Über 150 Millionen Menschen (elf Prozent der Bevölkerung) verharren mit ihrem Einkommen unterhalb des Existenzminimums – China bleibt ein Entwicklungsland.

Alte Fesseln lösen

Die chinesischen Planer wissen, wie gefährlich die Abhängigkeit von den USA werden kann und verfolgen daher eine Doppelstrategie. Die geht von der Überzeugung aus, Krisenabwehr ist auf Dauer nur dann möglich, wenn neue Absatzmärkte und Bezugsquellen für Rohstoffe und High-Tech-Produkte weltweit gesichert sind. Der billige Massenproduzent könnte bald ausgesorgt haben. Folglich müssen der Binnenmarkt über einige Megacitys und die von diesen dominierten Regionen hinaus angeregt und der Agrarsektor radikal modernisiert werden.

Die Chinesen haben die Krise genutzt, um mit dem unumgänglichen Strukturwandel zu beginnen. Erstes Gebot, um die Exportfessel zu lösen, ist ein hinreichend integrierter Binnenmarkt erforderlich. Dazu braucht es Infrastrukturen. China setzt auf den Schienenstrang, es leistet sich das weltweit größte Netz von Hochgeschwindigkeitszügen nach japanischem und französischem Muster. Zwischen Wuhan und Goungzhou verkehrt seit wenigen Wochen der erste chinesische TGV, der bereits alle Rekorde eingestellt hat. Bis 2020 sollen sämtliche Großregionen durch derartige Trassen verbunden sein. Zugleich wird für jede Millionenstadt ein U-Bahnnetz gebaut, das bisher nur in Peking, Nanjing, Schanghai und Guangzhou existiert. China entwickelt sein Kommunikationsnetz, hat aber bereits einen Verbund mit weit mehr Internetzugängen und -nutzern als in jedem anderen asiatischen Land. Die Kohleförderung steigt, die Zahl der Kohlekraftwerke ebenso. Parallel dazu werden Erneuerbare Energien, werden Wind- und Wasserkraftwerke in einem erstaunlichen Tempo ausgebaut, so dass die Volksrepublik mit einer Gesamtleistung von über 20 Gigawatt inzwischen Rang drei unter den Erzeugern von Windenergie für sich reklamieren kann.

Man könnte einwenden, Verkehr ist notwendig, aber nicht zwingend für einen Massenmarkt im Inland. Was ist mit Chinas wichtigster Ressource – der billigen Arbeitskraft? Droht aus dem Katalysator des Aufstiegs ein Hindernis zu werden? Tatsächlich verdienen selbst in den High-Tech- und Wissenschaftszentren chinesische Arbeitnehmer viel zu wenig. Weil Sozialleistungen abgebaut wurden oder nicht vorhanden sind, liegt die Sparquote im Landesdurchschnitt bei enormen 20 Prozent. Das Land braucht weiterhin enorme Investitionen, aber andere als bisher: Sie müssen dem Bildungs- und Gesundheitswesen dienen und einen Sozialstaat fördern, der allein Rückhalt für einen Binnenmarkt sein kann. Genau das hat Premier Wen nun angekündigt: Man werde in den folgenden Jahren mehr an das Sozialversicherungssystem denken, die Pensionen anheben und eine Unfallversicherung einführen. Man wolle die Schere zwischen den Lebenshaltungskosten auf dem Land und in der Stadt (wo die Durchschnittsmieten inzwischen mehr als 3,4 mal höher sind als im ländlichen Raum) zu verringern suchen. Man werde das System der inländischen Migration (Hokou), das aus den fünfziger Jahren stammt, schrittweise reformieren – freilich vorerst nicht für Megastädte wie Peking und Schanghai, die bereits übervölkert sind.

Crash-Gerüchte

Dazu kommt, vorsichtig verpackt, die Ankündigung einer Kurskorrektur in der Außenwirtschaftspolitik. Zum 1. Januar 2010 ist mit Ost- und Südostasien die drittgrößte Freihandelszone der Welt – nach EU und NAFTA – ausgerufen worden. China und zehn ASEAN-Länder verzichten fortan auf 90 Prozent der Zölle und Handelsbeschränkungen. Das wird die Ausfuhren der Chinesen in die asiatischen Nachbarländer beflügeln und eröffnet ihnen zugleich unbeschränkten Zugang zu den Ressourcen Asiens. Die regionale Vormacht Chinas wird noch einmal gestärkt, dessen Abhängigkeit von amerikanischen und europäischen Märkten vermindert. Der nächste Schritt soll ein regionaler Währungsverbund sein, zunächst mit einem gemeinsamen Rechengeld nur für den Außenhandel.

An den Finanzmärkten der Welt wird von Analysten trotz allem das Gerücht gehandelt, China steure 2010 auf einen gigantischen Finanzcrash zu. Das Wachstum 2009 sei nur eine vom Staat gefütterte spekulative Blase, getragen von Zahlenspielereien. Richtig ist, dass Aktienkurse und Immobilienpreise in Peking und Schanghai momentan rasant steigen. Richtig ist aber auch, dass die Regierung die expansive Politik des billigen Geldes der zurückliegenden Monate deutlich zurückfährt. Natürlich kann es an der einen oder anderen chinesischen Börse zu einem Crash kommen. Nur wird der ein lokales Ereignis bleiben, das weder die chinesische noch die globale Wirtschaft erschüttern kann. Anders als die US-Amerikaner sind die Chinesen keine Gefahr für die Weltökonomie.

Michael R. Krätke ist Professor für Politische Ökonomie an der Universität Lancater

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