Die Finanzkrise sei so gut wie ausgestanden, tönen Börsenanalysten und Weltökonomen. Sobald ein Teil der Kursverluste ausgeglichen wird, ist die Finanzwelt, geschlagen mit notorisch kurzem Gedächtnis, sofort wieder obenauf und macht in "immerwährender Prosperität". Doch der Arbeitsmarkt in diese Branche bezeugt anderes.
Das britische Centre for Study of Financial Innovation (CSFI), einer der weltweit führenden Think Tanks der Finanzmärkte, hat gerade 400 höhere Chargen der Finanzwelt befragt. Die überwiegende Mehrheit räumt ein, man sei von der Finanzkrise völlig unvorbereitet überrascht worden - das viel gepriesene Risikomanagement habe vollends versagt. Allenthalben wird die Ahnung spürbar, den Zenit noch nicht erreicht zu haben, weil die Hypothekenkrise erst der Anfang war und in eine Krise der Konsumentenkredite mündet (was besonders Kreditkarten- und Autofinanzierer treffen dürfte). Unverkennbar sind weltweit auch die Signale im Bausektor und bei den Bauinvestitionen.
Wer hierzulande nur auf den deutschen Exportboom starrt und dabei vergisst, wie er zustande kam, wer an eine immerwährende Prosperität in China und Ostasien überhaupt glaubt, täuscht sich und andere gewaltig. Die deutsche Wirtschaft ist heute exportabhängiger als je zuvor. Sie wächst dank ihrer Ausfuhren, aber sie tut dies nicht, weil sie so viel besser wäre als die Konkurrenz, sondern weil sie mit Hilfe des Staates Lohn- und Steuerdumping in großem Stil betreiben kann. Früher oder später kehrt die Arbeitslosigkeit zurück, die deutsche Großkonzerne erfolgreich ins Ausland exportiert haben. Weil die europäischen Nachbarn die Zeche für den deutschen Aufschwung zahlen, eher früher.
Ein Aderlass für New York
Vor wenigen Jahren platzte die Dot.com-Blase, die allseits hochgejubelte Neue Ökonomie war am Ende. Nach einer gigantischen Kapitalvernichtung und endlosen Serie von Betrügereien wurde in Deutschland der Neue Markt im Juni 2003 geschlossen. Neu war daran vor allem die Unverschämtheit, mit der reine Luftgebilde verhökert, Hasardeure und Pleitiers der schlimmsten Sorte als Leitbild des neuen Entrepreneurs gefeiert wurden. In knapp zwei Jahren gingen damals allein im Finanzsektor mehr als 90.000 Jobs verloren, davon 60.000 am Finanzplatz New York. Hunderttausende räumten bei Internetfirmen und Zulieferern Schreibtisch und Spind.
Platzte beim Dot.com-Crash noch eine klassische Aktienspekulationsblase, drängt die Finanzkrise diesmal furios bis in die "Realökonomie" vor. Seit vor knapp einem Jahr die ersten Banken ins Straucheln kamen, sind auf den großen internationalen Finanzplätzen mehr als doppelt so viele Arbeitsplätze verloren gegangen als nach dem Dot.com-Crash 2000/2001 in zwei Jahren. Allerorten werden hoch und weniger hoch bezahlte Jobs massiv gekappt. Besonders hart trifft es die Wall Street, die City of London, Finanzdienstleister in Tokio und Zürich, ebenso in Hongkong und Singapur. In der Summe mussten die Großbanken bislang weltweit über 330 Milliarden Dollar an faulen Krediten abschreiben - offiziell eingestandene Verluste, von denen niemand weiß, um wie viele Milliarden sie noch zulegen. Selbst die im April veröffentlichte Schätzung des Internationalen Währungsfonds von bis zu einer Billion Dollar Einbußen kann sich rasch als waghalsige Untertreibung erweisen.
Seit Januar 2007 ist die US-Finanzbranche um etwa 200.000 Jobs geschrumpft - davon entfielen allein auf den Zeitraum zwischen August und Dezember 2007 fast 140.000. Nimmt man den April 2008, dann wurden in 30 Tagen über 23.000 Stellen abgebaut, bei den Wall-Street-Großbanken, bei Versicherungen und Hypothekenfinanzierern. Großbanken und Wertpapierhändler (alle anderen Finanzunternehmen ausgeklammert) haben allein seit August 2007 in den Vereinigten Staaten mehr als 65.000 Arbeitsplätze gestrichen (s. Übersicht).
Bei einem solchen Aderlass droht auch der Stadt New York ein Finanzdebakel. Weil die Gewinne der Wall Street seit August 2007 um bis zu 80 Prozent eingebrochen sind - sie lagen mit 3,2 Milliarden Dollar auf dem niedrigsten Stand seit 1994 - kostete das allein in diesem Metier 20.000 Jobs.
Für New York bedeutet das Riesenverluste: Schon wenn der Milliarden-Bonus gekürzt wird, den die Wall-Street-Banken bisher Jahr für Jahr an ihre Mitarbeiter vergeben konnten, verheißt das der Stadt schrumpfende Einnahmen bei der Einkommensteuer und beschert Autovermietern, Immobilienmaklern, Telekommunikationsfirmen, Bars und Restaurants der gehobenen Preisklasse Umsatzeinbrüche in Größenordnungen. So weitet sich die Krise aus und hat zur Konsequenz, dass eine Megacity wie New York inzwischen gleichfalls Personal abbaut, um ihr Haushaltsdefizit klein zu halten.
Enormer Leistungsdruck
Größter Jobvernichter in Europa war bisher die Royal Bank of Scotland mit 7.500 gestrichenen Stellen, die meisten davon in London. In der britischen Hauptstadt arbeiten heute derzeit 350.000 Frauen und Männer im Finanzsektor, sie besetzen noch 50 Prozent mehr Stellen, als augenblicklich die Finanzbranche in Deutschland vorweisen kann. Doch müssen nach jüngsten Prognosen bis Ende des Jahres noch einmal mindestens 20.000 in der City of London mit Kündigung rechnen.
In der Schweiz hat die Großbank UBS im ersten Quartal 2008 über zwölf Milliarden Schweizer Franken verloren, so dass für die nächsten Monate zwischen 5.500 und 6.000 Stellen akut bedroht sind. Die deutschen Banken hingegen scheinen vorerst noch ohne den großen Aderlass bei Arbeitsplätzen auszukommen, sieht man von den Landesbanken ab, bei denen die WestLB bis 2010 wenigstens 1.400 Stellen streichen will und andere Institute nachziehen dürften. Die großen privaten Häuser indes halten sich zurück, auch wenn die Deutsche Bank die Zahl ihrer Mitarbeiter bis Ende 2008 um zirka 1.000 verringert haben will. Analysiert man freilich den Trend eines ganzen Jahrzehnts, dann verschwanden im deutschen Finanzgewerbe seit Ende der neunziger Jahr immerhin mehr als 100.000 Jobs. Tendenz steigend.
Eine Studie der Deutschen Angestellten Krankenkasse DAK zeigt die Folgen für die Beschäftigten. Psychische Erkrankungen haben unter den Belegschaften dramatisch zugenommen, seit die Mitarbeiter dank massivem Stellenabbau und ständig höherer Zielvorgaben unter einem enormen Leistungsdruck stehen. Vorrangig gilt das für den Vertrieb, also bei denjenigen, die ihren Kunden immer neue "Finanzprodukte" verkaufen müssen. Eine Befragung von 3.500 Bankangestellten, die Verdi in Hessen durchführen ließ, bestätigt das: Vier Fünftel der Befragten fühlen sich stark belastet und sorgen sich um ihre Gesundheit.
Michael R. Krätke ist Professor für Steuerrecht und Volkswirtschaft an der Universität Amsterdam.
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