Die EU ist eine Weltwirtschaftsmacht, die so tut, als sei sie keine. Das ist mehr als eine Dummheit – das ist ein Fehler. Denn die Staatengemeinschaft der Eurozone kann es sich nicht leisten, Griechenland den Haien der Finanzmärkte zu überlassen, ebenso wenig wie Spanien, Portugal, Irland oder Italien (PIIGS-Länder). Es ist zugleich unmöglich, einen dieser Staaten oder alle aus der Währungsunion wieder auszuschließen. Die EU kann sich nur eingestehen: Sie ist zur Solidarität verurteilt. Ganz gleich, in welcher Form Finanzhilfe für Athen organisiert wird – wenn es dazu kommt, ist der vermaledeite Vertrag von Maastricht praktisch tot. Das zu bedauern, verbittet sich.
Den Ländern der Eurozone bleibt nichts weiter übrig, als die gemeinsame Währung gegen die internationale Spekulation zu verteidigen. Als der Euro 1999 eingeführt wurde, galten drei Dogmen als unerschütterlich: Fiskalpolitik ist ineffizient – Inflation wird allein durch das Geldangebot verursacht – die Märkte, wenn man sie nur machen lässt, gleichen alle Störungen automatisch aus.
Mit der 2008 ausgebrochenen Wirtschaftskrise sind Regierungen weltweit zur Fiskalpolitik zurückgekehrt. Um den Kollaps der Finanzmärkte zu verhindern, wurden sie mit billigem Geld überschwemmt, doch hat sich keine Inflation eingestellt. Davon ist auch im dritten Jahr der Krise nichts zu merken. Die Widerlegung von Dogmen ist freilich noch keine Antwort auf die Frage: Wie soll es weitergehen mit der Eurozone, der EU überhaupt? Will sie Spielball der Finanzmärkte bleiben, die sich gerade auf ihre Weise für die Rettung aus der von ihnen verursachten Weltfinanzkrise bedanken? Wollen die Europäer mehr als einen gemeinsamen Waren- und Kapitalmarkt plus Freizügigkeit für die EU-Bürger?
Wer will den EU-Superstaat?
Rein ökonomisch betrachtet ist die Europäische Union der am stärksten integrierte Großraum der Welt. Über 60 Prozent der deutschen Exporte gehen in die europäischen Nachbarländer, bei denen die Außenhandelsabhängigkeit von der EU kaum anders aussieht. Trotzdem tun die Länder der Eurozone so, als könnten sie sich weiter eine rein nationale Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik leisten. Ein Irrtum, ein Dogma oder was auch immer. Man braucht nicht das Gespenst eines EU-Superstaats aus dem Schrank zu lassen, um sich einen EU-Föderalismus vorzustellen, der dem US-amerikanischen Muster folgt.
Auf keinen Fall kann die EU länger so tun, als sei sie nur eine Ansammlung von Nationalökonomien. Alles spricht dafür, mit dem Nationalismus in den Köpfen aufzuräumen und die Union der 27 als das zu sehen, was sie schon ist. Dazu bedarf es zunächst einmal einer Neuordnung der EU-Finanzen. Gebraucht werden ein größerer EU-Haushalt und eine Europäische Zentralbank (EZB), die nicht nach dem Muster der deutschen Bundesbank gestrickt ist. Es geht um ein Institut, das europäische Wirtschaftspolitik betreibt, statt sich hinter monetaristischen Dogmen zu verstecken. Es spricht alles für eine einheitliche europäische Finanzaufsicht samt einheitlicher Börsen- und Bankengesetzgebung. Natürlich wird da die City of London aufheulen. Die Angst vor einer europäischen Regulierung ist schließlich der Grund dafür, dass ein marodes Pfund Sterling nicht schon längst ins Museum für Geldgeschichte gewandert ist. Es spricht zudem alles für ein Ende der törichten Steuerkonkurrenz, die jedes Land, auch die reiche Bundesrepublik, zwingt, als Steueridyll um die Gunst internationaler Großfinanziers zu buhlen.
Wer rettet den Staat?
In Deutschland tönt die politische Klasse, es gelte, Schaden vom deutschen Steuerzahler fern zu halten. Das hätte die Politik beherzigen sollen, als sie mit Milliarden Steuergeldern Bank um Bank gerettet hat – und dabei deren ausländische Töchter gleich mit. Die griechische Tragödie trifft am Ende den deutschen Steuerzahler so oder so. Diesmal sind zwar deutsche Banken nur am Rande dabei, dafür haben Versicherungen wie die Allianz erhebliche Summen in Staatsanleihen der PIIGS-Länder gesteckt, die gerade rapide an Wert verlieren. Derweil verdient die internationale Hochfinanz, voran die Investmentbanker der Wall Street und der City of London, prächtig an der Finanzmisere einiger EU-Mitglieder (Goldman Sachs mindestens 300 Millionen Dollar).
Man wird sich dauerhaft und hartnäckig in die „inneren Angelegenheiten“ von EU-Staaten einmischen müssen. Darin besteht der Sinn einer Wirtschaftsunion, die sich aus der Logik einer Währungsunion ergibt. Künftig wird uns das einigermaßen kuriose griechische Rentensystem angehen müssen, vom italienischen ganz zu schweigen. Künftig wird zu fragen sein, ob sich jeder unserer EU-Partner den Luxus nationaler Armeen mit allen Schikanen leisten sollte. Die Kleinstaaterei im großen Europa wirkt als Ärgernis und Hindernis zugleich. Zur Währungsunion gehört eine gemeinsame Anleihepolitik der EZB ebenso wie eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, um die sich die EU-Kommission kümmern sollte – bislang wird beides entbehrt.
Das Problem ist jedoch nicht Staatsverschuldung allein (die USA und Großbritannien haben weit höhere Defizitquoten – um die 13,0 Prozent – als Griechenland, Portugal oder Italien), sondern ein wachsendes ökonomisches Ungleichheit zwischen den EU-Mitgliedsländern. Armenhäuser dürfen nicht geduldet werden, auch nicht in Deutschland, das sich eine Hauptstadt mit der europaweit größten Armutsbevölkerung leistet. Um diesen Ungleichheiten zu begegnen, wird ein europäischer Finanzausgleich unumgänglich sein, auch im Sinne einer Beschränkung der nationalstaatlichen Steuerhoheit.
Gerade haben wir den Staat als Retter des Kapitalismus in Krisennot entdeckt. Von einer Renaissance des Staats war die Rede – eine herzige Übertreibung, da der Staat nie verschwunden war. Jetzt, wenige Monate später, fragt sich: Wer rettet den Staat vor seiner eigenen Finanzkrise? Die Banken werden es nicht tun, und die Finanzmärkte sehen nur die Jahrhundertchance, die reichsten Staaten der Welt auszunehmen. Staaten können sich nur selbst retten oder von anderen Staaten gerettet werden. Dazu bietet die Eurozone Voraussetzungen wie nirgends sonst. Gäbe es sie nicht, müsste man die EU jetzt erfinden und als eine Gemeinschaft konstituieren, die sich vom geistigen und finanziellen Joch der Finanzmärkte befreit hat.
Michael R. Krätke ist Professor für Politische Ökonomie an der Universität Lancaster
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