Nie zuvor in seiner 60jährigen Geschichte hat der Internationale Währungsfonds (IWF) in einer tieferen Krise gesteckt. Die Tagung seines Gouverneursrats gerade in Singapur war ein Krisengipfel, bei dem es um Sein und Nichtsein ging, auch wenn viele Beteiligte den Schein der Normalität zu wahren suchten. Auf der Agenda stand eine Reform des Fonds an Haupt und Gliedern, doch mehr als einen symbolischen ersten Schritt haben die Finanzminister der 184 IWF-Mitgliedsländer nicht zustande gebracht.
Der IWF könnte in die Bedeutungslosigkeit versinken und außer den etwa 2.800 hoch bezahlten Ökonomen in seinen Diensten dürfte das kaum jemanden sonderlich schmerzen. Wachsendes Misstrauen und eine anschwellende, vielstimmige Kritik an der angeblich so "soliden" Politik des Fonds haben eine veritable Krise beschert - der IWF ist beinahe pleite. Was allerdings die reichen Industrieländer des Nordens nicht sonderlich stören dürfte, schließlich können sie den IWF längst entbehren. Seit Mitte der siebziger Jahre hat kein Staat aus dieser Liga mehr einen Kredit in Anspruch genommen. Auch werden von den Industrienationen keine laufenden Mitgliedsbeiträge mehr gezahlt, da sich der Fonds stattdessen aus den Gebühren und Zinsen seiner Kreditnehmer finanzieren sollte. Das funktionierte eine Zeit lang prächtig, bis durch die Art der Kreditvergabe viele Großkunden dermaßen verärgert wurden, dass sie davon liefen.
Ursprünglich sollte der IWF innerhalb des Bretton Woods Systems* fester Wechselkurse den Mitgliedsländern helfen, den Kurs ihrer Währungen in den vereinbarten Grenzen zu halten und vorübergehende Zahlungsbilanzdefizite zu überbrücken. Als das System im Frühjahr 1973 zusammenbrach, wandte sich der IWF vorzugsweise gen Süden und wurde - in direkter Konkurrenz zur Weltbank - zum Kreditgeber für Entwicklungsländer. Damit änderte sich seine Politik grundlegend: Ab Ende der siebziger Jahre drängten die IWF-Manager ihre Schuldner massiv, dem international mobilen Kapital freie Bahn zu verschaffen und Kapitalverkehrskontrollen radikal abzubauen. Während das Volumen der vom IWF gewährten Kredite unablässig wuchs, wurden die dafür geltenden berühmt-berüchtigten "Konditionen" für die Schuldner immer rigider: Die Fondsgewaltigen hatten sich auf einen veritablen Katalog von Mantras versteift. Wer Hilfe suchte, der hatte diesen Katechismus ohne Unterschied zu schlucken.
Ein Dollar - ein Stimme
Der IWF zwang seine Kunden zur immergleichen Politik des Sparens, des Lohndrückens, der Privatisierung wie Deregulierung und wurde zu einem Schuldeneintreiber, der jeden Abfall vom Glaubenskanon liberaler Wirtschaftspolitik gnadenlos abstrafte. Als der Fonds 1997 die von der Asienkrise hart getroffenen Ländern nur entlasten wollte, falls diese dem ausländischen Finanzkapital - voran den Hedge Fonds, deren konfuse Fluchtbewegungen die Krise ausgelöst hatten - wieder Tür und Tor öffneten, war das Maß voll - alle hatten eine bittere Lektion gelernt.
Mit Ausnahme der Türkei haben inzwischen alle wichtigen Schwellenländer ihre Schulden an den IWF zurückgezahlt - in der Regel vorzeitig, um den Fonds und seine Kommissare los zu werden. Seit 2003 beispielsweise ist Thailand gegenüber dem IWF schuldenfrei, Anfang 2005 konnte selbst Argentinien sämtliche Kredite zwei Jahre vor der Fälligkeit ablösen. Darüber hinaus haben die Schwellenländer auf eigene Faust Devisenreserven in Höhe von mehr als 2.500 Milliarden Dollar akkumuliert, um bei Finanzkrisen nicht mehr auf den IWF angewiesen zu sein. In Asien und Lateinamerika entstanden eigene regionale "Währungsfonds" wie die "Chiang Mai Initiative" aus dem Jahr 2000, die 13 Staaten - darunter China, Japan, Malaysia und Südkorea - vereint.
Dem Fonds fehlen dadurch heute die gewohnten Einnahmen aus Zinsen und Gebühren, so dass 2006 ein Budgetloch von über 110 Millionen Dollar klafft, das größer zu werden verspricht. Natürlich könnte der IWF Goldbestände verkaufen und Währungsreserven am Kapitalmarkt anlegen, aber das würde nicht reichen - es sei denn, man wollte sich selbst verschulden. Einem veritablen Crash lässt sich nur entrinnen, sollten die Quoten der Mitglieder und damit deren Stimmrechte neu justiert werden. Damit allerdings wäre die innere Machtbalance zur Disposition gestellt, bestimmt doch die Höhe der "Quote" unter anderem, wie viel Kredit jedes Mitgliedsland beanspruchen darf und welchen Einfluss es auf die Politik des IWF nehmen kann.
Gemessen an Institutionen wie der Welthandelsorganisation oder den Vereinten Nationen ist der IWF ein höchst undemokratischer Verbund. Statt "ein Land - eine Stimme" galt von Anfang an das gut kapitalistische Prinzip "ein Dollar - eine Stimme". Wer am meisten zahlte, hatte die meisten Stimmen und den größten Einfluss: die reicheren Länder dominieren die ärmeren, hieß die Devise. Jeder IWF-Partner hält zwar 250 Basisstimmen unabhängig von seiner Größe oder finanziellen Potenz, der weitaus größere Teil der Stimmrechte jedoch wird nach einer "Quote" verteilt, die sich aus Reichtum und Wirtschaftskraft eines Landes berechnet. Im Laufe der Zeit sind die "Quoten" insgesamt zwölf mal evaluiert worden, so dass inzwischen das Gewicht der Basisstimmen von anfangs 11,3 auf gerade noch 2,1 Prozent der Gesamtstimmenzahl gesunken ist. Ungleicher könnten die Stimmrechte kaum verteilt sein.
Folglich haben von den 184 IWF-Staaten heute nur einige wenige das Sagen, voran die USA, die mit einem Stimmenanteil von 17, 1 Prozent sogar als einziges Land über eine Sperrminorität - ein Vetorecht quasi - verfügen. Die G 7-Länder (USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Japan, Italien und Kanada) kommen auf mehr als 44 Prozent der Stimmen, die 25 EU-Staaten auf fast 32 Prozent - das heißt: Europa, die USA, Kanada und Japan akquirieren zusammen über 63 Prozent des Stimmenpotenzials im IWF. Dagegen kommen die Länder der G 77 - der Gruppe gehören derzeit 132 Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas an - zusammen nur auf 28 Prozent. Auf die Spitze getrieben wird diese Disharmonie, wenn Lateinamerika mit einer Quote von sieben Prozent abgespeist wird und damit in etwa beanspruchen darf, was Deutschland zugestanden ist (6,1 Prozent). Ganz zu schweigen von den höchst bescheidenen Anteilen Chinas mit 2,3 Prozent sowie Indiens und Brasiliens mit 2,1 beziehungsweise 1,5 Prozent, was deren Rang in der Weltökonomie nicht mehr entspricht. In diesen anachronistischen Relationen liegt ein entscheidender Grund für die Legitimationskrise des IWF: die Dienste eines Kreditgebers, der sich autoritär und mit untauglichen Rezepten in die Angelegenheiten souveräner Staaten eingemischt und dazu noch vordemokratisch verfasst ist, nimmt man lieber nicht in Anspruch.
"Neues" Bretton Woods
Die wichtigsten Schwellenländer haben im Oktober 2005 auf einem Treffen im chinesischen Xianghe eine überfällige Reform von Quoten und Stimmrechten im IWF reklamiert und sich dabei der Assistenz des Europäischen Parlaments versichert, das den zwölf Ländern der Euro-Zone künftig nur noch einen Sitz im IWF-Verwaltungsrat zugestehen will - statt der sieben Mandate bisher. Von daher konnten die Fondsgewaltigen gar nicht anders, als einen Reformplan in zwei Stufen zu erstellen, der bis 2008 Praxis sein soll.
Ob das gelingt, ist freilich mehr als zweifelhaft. Denn der Plan des geschäftsführenden Direktors de Rato enthält nur einen ersten, konkreten Schritt: Die Quoten der am stärksten unterrepräsentierten Schwellenländer China, Südkorea, Mexiko und Türkei zu erhöhen. Das ist in Singapur beschlossen worden - mit überraschend vielen Gegenstimmen, weil sich Staaten wie Indien, Ägypten, Argentinien, Brasilien, Indonesien oder Malaysia nicht mit derartigen Minimalkonzession beschwichtigen lassen.
In der zweiten Reformstufe soll die Berechnung der Quote eines Mitgliedslandes geändert werden. Es geht um die brisante Frage, wie man das relative Gewicht eines Staates in der Weltökonomie bestimmt. Über die Bevölkerungszahl? Die natürlichen Ressourcen? Die Devisenreserven und Zahlungsbilanz? Welches Gewicht soll welchen Kriterien zuerkannt werden? Was wie ein Streit um politische Arithmetik aussieht, wird als weltwirtschaftlicher Machtkampf ausgetragen. Wobei die Schwellenländer nur gewinnen können, wenn sie Verbündete finden. Die Schweiz zum Beispiel, die dafür wirbt, durch eine neue Quotenformel das relative Gewicht jedes Landes im System der internationalen Finanzmärkte angemessen zu berücksichtigen. Belgien, die Niederlande und Schweden sekundieren und halten zusammen mit den Eidgenossen als kleine, feine Finanzmächte eine Sperrminorität im Fonds. Derlei Risse in der Front der Reichen dürften den G 77-Ländern nicht verborgen bleiben.
Gravierender jedoch ist die Frage, wo und wie der IWF in die Weltfinanzarchitektur überhaupt noch eingebaut sein soll. Wozu er gebraucht wird - und von wem. Auf diese Fragen hat auch in Singapur niemand schlüssig geantwortet. Wäre es da nicht vernünftiger, sofort auf ein "neues Bretton Woods" Kurs zu nehmen - auf eine wirkliche Neuordnung des internationalen Geld- und Finanzsystems, um das jetzige "Nicht-System" zu ersetzen?
(*) Das System von Bretton Woods entstand 1944 auf einer Währungs- und Finanzkonferenz in den USA, an der 44 Staaten teilnahmen. Vereinbart wurden u. a. eine Finanzordnung der festen Wechselkurse zwischen den Industriestaaten innerhalb begrenzter Schwankungsbreiten sowie die Gründung von IWF und Weltbank.
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