Reykjavik an der Themse

Finanzkrise Das Mutterland des Kapitalismus steht unter Schock - Großbritanniens Premier reagiert mit Aktionismus. Doch auch das zweite Rettungspaket wird wenig ändern

Die Royal Bank of Scotland (RBS), bisher die Nummer zwei der britischen Finanzbranche, bricht mit einem Verlust von umgerechnet 31 Milliarden Euro alle Rekorde der nationalen Wirtschaftsgeschichte. Man hat fröhlich gezockt bei der weltweiten Spekulation mit Hypothekenderivaten und sich bei der Übernahme der niederländischen ABN-Amro Bank übernommen. Die Konsequenzen sind nicht minder zerstörerisch als bei Barclays, gleichfalls ein erloschener Stern am Bankenfirmament: Allein im Januar verlor das Institut fast 70 Prozent seines Börsenwerts und ist damit wieder im Jahr 1985 angekommen.

Bitter, aber wahr – das 37 Milliarden Pfund schwere staatliche Rettungspaket vom Oktober ist fast wirkungslos verpufft. Nun schiesst die Regierung Brown 500 Milliarden nach. Und das unter Umständen, die unerfreulicher kaum sein könnten, denn Britanniens Ökonomie schrumpft seit mehr als sechs Monaten in rasantem Tempo, die Arbeitslosigkeit schießt in die Höhe, polnische Gastarbeiter verlassen zu Tausenden das Land. Bei wilden Streiks – ob in einer Raffinerie im nordenglischen Lindsey oder im Kernkraftwerk Sellafield – wird besonders gegen Gastarbeiter aus Osteuropa, Portugal und Italien Front gemacht. Die Belegschaften beziehen sich ausdrücklich auf Premier Brown, der auf dem Labour-Parteitag des Jahres 2007 den Slogan geprägt hatte: „Britische Jobs für britische Arbeiter !“ Ausgerechnet diese Parole steht in dieser Woche auf den Transparenten Hunderter Streikposten auf der Insel, die wohl nicht zu Unrecht meinen, in einem beinharten sozialen Überlebenskampf zu stehen.


In Britannien sind im zurückliegenden Jahrzehnt zu viele alte wie neue Industrien verschwunden und durch „Finanzdienstleistungen“ ersetzt worden, die jetzt kaum noch jemand haben will. So reißt ein überdimensionierter Finanzsektor das ganze Land mit in den Abgrund. Es ist für die Insel die schlimmste Rezession seit 1990 – und es kann noch schlimmer kommen. Einziger Lichtblick: Die Inflation verliert an Schwung, die Preis fallen bei Immobilien und Lebensmitteln, bei Benzin und Gas.

Das Paket, das Brown und sein Finanzminister Darling diesmal geschnürt haben, beruht auf einer Versicherungskonstruktion. Es wird keine Bad Bank gestiftet, um faule Papiere einfach aufzukaufen und zu Lasten des Steuerzahlers einzulagern. Stattdessen will der Staat eine Kreditausfallversicherung auflegen. Das bedeutet, gegen eine nicht unerhebliche Gebühr – zu zahlen in Cash oder Aktien – will der britische Staat die Banken gegen maximal 90 Prozent der möglichen Verluste absichern. Wer diese Hilfe in Anspruch nimmt, der muss sich verpflichten, den Kredithahn wieder aufzudrehen. Gordon Brown spielt dabei mit hohem Risiko, immerhin werden die Giftmüll-Papiere in den Portfolios britischer Banken auf einen Wert von über 200 Milliarden Pfund geschätzt. Wie hoch der tatsächlich ist, weiß niemand.

Was die Herren der Londoner City in Aufruhr versetzt, ist die strikte Weigerung der Regierung, die Details ihres Rettungsplans vor Ende Februar bekannt zu geben. Das hat zum Teil technische Gründe, ist aber auch Politik. Gordon Brown muss den Eindruck vermeiden, Pleitiers Geld hinterher zu werfen. Er will und muss diesmal von den Banken Gegenleistungen sehen, die trotz unermüdlicher staatlicher Beistandsakte auf ihrem Geld wie ihren faulen Krediten sitzen und den Geldmarkt klamm halten. Daher wird immer lauter das Verlangen artikuliert, der Staat möge einspringen, wo die Banken versagen beziehungsweise nicht mitspielen.

Ideologischer Plunder

Eile ist geboten, sagt John McFall, Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Unterhaus: Die Royal Bank of Scotland, bei der die Regierung die Staatsbeteiligung gerade von 58 auf 70 Prozent hoch schraubt, sei ebenso komplett zu verstaatlichen wie die Lloyds Baring Group, wo der Staat schon als 43-Prozent-Teilhaber agiert. Dann, so McFall, gäbe es Möglichkeiten, den Saustall auszumisten, den die honorigen privaten Geschäftemacher grenzenlos arrogant und ahnungslos angerichtet hätten. Nichts Neues also auf dem Rialto: Ohne starken Staat, ohne staatlich organisiertes und kontrolliertes Bankensystem funktioniert der gute alte Kapitalismus offenbar nicht.

Die Tories werden bei alldem nicht müde, den drohenden Staatsbankrott zu beschwören und in etwa so wie deutsche „Wirtschaftsexperten“ das Einmaleins des berüchtigten EU-Stabilitätspakts zu repetieren. Es ist in der Tat absehbar, dass die britische Neuverschuldung Ende 2009 zwischen acht und neun Prozent des Bruttosozialprodukts pendelt und den britischen Staat teuer zu stehen kommt, denn die Zinsen für Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit mussten gerade von 3,3 auf 3,5 Prozent angehoben werden. Die Zinsunterschiede zu den deutschen Staatsanleihen etwa wachsen deutlich, schon jetzt liegen sie bei mehr als einem halben Prozent. Aber pleite ist Britannia noch lange nicht, obwohl das fiktive „Volksvermögen“ dank fallender Immobilienpreise und abstürzender Aktienkurse kräftig schrumpft. Während selbst die neoliberalen Glaubenskrieger in der EU-Kommission inzwischen eingesehen haben, dass in Zeiten einer Weltwirtschaftskrise die Regeln des Vertrages von Maastricht nicht viel mehr sind als ideologischer Plunder, zeigen die Konservativen aller Parteien, dass sie nichts als die Gefangenen ihrer veralteten Dogmen sind: Staatsschulden sind schlecht und von Übel, ganz gleich, in welcher Form und zu welchem Zweck. Die Lüge von der „Belastung der nächsten Generationen“ wird unablässig bemüht.

Kritische Fragen der Queen

Kein Zweifel, der Aktionismus des britischen Premiers hat viel mit Politik und noch mehr mit Angst vor dem Zorn des Wahlvolks zu tun. Brown war ein bekennender Neoliberaler, jahrelang hat er behauptet, das Wechselspiel von Boom und Krise sei zu Ende, und auf die „leichte Regulierung“ geschworen. Er hat die britische „Finanzindustrie“ wuchern und die britische Industrie verkommen lassen. Bis vor zwei Jahren, als man in London noch die höchsten Wachstumsraten in der EU bejubeln konnte, schien das gut zu gehen.
Warum hat niemand das Desaster kommen sehen? – fragt inzwischen selbst die Queen. Gordon Brown räumt zerknirscht ein, er habe sich ein solches Versagen der stets als höchst effizient gelobten Finanzmärkte nicht vorstellen können. Im Augenblick versucht er, das einst gepriesene angelsächsische Modell umzubauen. Wenn es nicht anders geht, dann eben mit scheinbar radikalen Maßnahmen wie Bankenverstaatlichungen.

Der Premier ist klug genug, den Ball zu fangen, den Barack Obama ihm mit seinem über 800 Milliarden Dollar schweren Green-Jobs-Programm zugespielt hat. In größter Eile werden Förderpakete für die britische Industrie geschnürt und öffentliche Investitionen aufgestockt. Das wird weitere Milliarden kosten, doch hofft man in Downing Street, auf dem nächsten G-20 Gipfel im April würden sich Partner und Rivalen vom Sinn einer konzertierten Aktion gegen die drohende Deflation in der Weltökonomie überzeugen lassen. Ob freilich bloße Zuversicht ausländische Investoren zufrieden stellt?

Manche Beobachter malen jetzt das Gespenst einer Rettung durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) an die Wand – für die Briten eine böse Drohung, dann lieber einen vorzeitigen Beitritt zur Euro-Zone.

Konjunkturprogramme sind Verschuldungsprogramme

Die nationalen Rettungspakete der EU-Staaten zwingen den EU-Stabilitätspakt in die Knie. 1992 hatte die EU im Maastricht-Vertrag Regeln vereinbart, um explodierende Schulden zu vermeiden: In normalen Jahren sollte ein annähernd ausgeglichener Staatshaushalt erreicht werden in Krisenzeiten ein Spielraum bestehen, durch erhöhte Staatsausgaben die Wirtschaft zu stabilisieren. Für die Neuverschuldung galt ein Höchstwert von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), für die Gesamtschulden die Grenze von 60 Prozent des BIP.

Toleranzgebot

EU-Währungskommissar Joaquin Almunia hat bereits angekündigt, die Verschuldungsgrenze bis auf weiteres großzügig auszulegen. Ab 3,5 Prozent will der Defizitwächter jedoch aktiv werden nach jüngsten Prognosen müssten mindestens neun EU-Staaten damit rechnen. Schon in diesem Jahr wird demnach die Verschuldung Irlands bei 11,0 Prozent des BIP liegen.

Sanktionsgebot

Klar über den Vorgaben werden auch Spanien (6,2), Frankreich (5,4), Portugal (4,6) und Deutschland (4,0) liegen. Dramatischer wird es 2010, wenn mindestens 13 Länder der EU die neue Almunia-Grenze von 3,5 Prozent überschreiten könnten.
Normalerweise muss die Europäische Kommission aktiv werden, wenn die Defizitkriterien nicht erfüllt werden. Diese auf den Maastricht-Vertrag zurückgehende Verpflichtung gilt auch dann, wenn die Kriterien de jure eingehalten werden, aber die Kommission der Auffassung ist, es bestehe die Gefahr eines übermäßigen Defizits.
Die letzte Entscheidung über Sanktionen gegen einen EU-Mitgliedsstaat, der sich vertragswidrig verhält und eine Neuverschuldung über die geltenden Grenze hinaus zulässt, liegt beim Europäischen Rat, also den Regierungschefs. Vertragsbrüchigen Staaten drohen dann unter Umständen hohe Geldstrafen.

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