Nach Wochen dramatischer Kursausschläge an den Börsen gibt es für die Deutschen durchaus Grund, Angst zu haben. Der Weltwirtschaft geht es schlecht, die Finanzkrise ist noch lange nicht ausgestanden, die nächste Rezession zeichnet sich ab.
Seit Ausbruch der Turbulenzen sind an den Weltbörsen mehr als 2,5 Billionen Dollar verbrannt worden, und die Flucht aus den Aktien hält an. Davon profitieren die vermeintlich sicheren Geldhäfen: das Gold, der Dollar und der Schweizer Franken, in Maßen der Yen und das Pfund, aber auch langfristige Staatsanleihen der USA und Deutschlands. Ein untrügliches Krisensymptom: Obwohl die Bonität der US-Staatspapiere herabgestuft ist, führen niedrige Zinsen dazu, dass ihre Renditen im Moment auf dem niedrigsten Stand seit 60 Jahren sind. Ähnlich gut geht es Bundesanleihen – sie gehen weg wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln.
Der Börsencrash hat mittlerweile Ausmaße angenommen wie zuletzt im September 2008 – vor nun genau drei Jahren – beim freien Fall der US-Bank Lehman Brothers. Verschärft wird die Nervosität durch pessimistische Konjunkturprognosen, die inzwischen auch Brasilien und Indien wie auch dem Wunderland China gelten, das an Schwung verliert. Allerdings entspricht Letzteres wohl zum Teil der Absicht der Regierung in Peking, das Wachstum auf sieben Prozent bis 2015 zu drosseln und so die Inflation zu zügeln.
Rezession und Depression
Am stärksten hat sich das Wachstum in Deutschland verlangsamt, von 1,8 auf 0,1 Prozent im zweiten Quartal. Die Bundesregierung bereitet die Öffentlichkeit inzwischen darauf vor, dass sie ihre Wachstumsprognose für das kommende Jahr senken muss. Die Einfuhren legen seit Monaten stärker zu als die Ausfuhren. Für eine Exportwirtschaft ist das ein untrügliches Indiz, dass sich der Aufschwung ins Gegenteil verkehrt. Vieles deutet auf einen Konjunktureinbruch schon in nächster Zeit hin. Die wichtigsten Abnehmer der deutschen Exportmaschine in der EU beziehungsweise der Eurozone schwächeln. Großbritannien stagniert ebenso wie Frankreich.
Sollte Ende 2011 noch ein durchschnittliches Jahresplus von einem Prozent für den Euroraum herauskommen, wäre das respektabel. Doch wäre es zu wenig, um die Unterbeschäftigung in dieser Wirtschaftsregion einzudämmen, vor allem die exorbitante Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, Portugal und Griechenland.
Schlimmer als die Eurozone hat es bei einem Rückgang der Gesamtproduktion von fast drei Prozent die USA getroffen. Dort lahmt die Industrie auf breiter Front, vorrangig die Investitionsgüter-Branche, mit Abstrichen die Produktion langlebiger Gebrauchsgüter. Die Massenarbeitslosigkeit (offiziell 9,1 Prozent) in den USA lässt sich nicht dämpfen, weil stagnierende Reallöhne und überschuldete Privathaushalte eine Rückkehr zu einer auf Pump finanzierten Konsumkonjunktur ausschließen.
Vorbild Fed
Unisono verkünden die Analysten die gleiche Botschaft, und die müsste der Bundesregierung in den Ohren klingen: Die Sparprogramme, die überall greifen – in Griechenland und Irland, ebenso in Spanien, Italien oder in den USA – ,werden nationale Konjunkturen dämpfen und daher die weltweite Talfahrt beschleunigen. Am dramatischsten sind die Einbrüche in Griechenland (minus fünf Prozent), weniger drastisch, aber dafür umso nachhaltiger, in Großbritannien. Die Sparchampions führen ihre Länder unweigerlich in Rezession und Depression. Aber, so schreiben die gleichen Analysten: Sparen, sparen und noch mehr sparen ohne Ende, das sei unumgänglich.
Italien, die siebtgrößte Exportnation der Welt, bekommt das Spardogma derzeit besonders zu spüren (siehe unten). Und das, obwohl seine Schulden überwiegend Inlandsschulden sind, aber eine Pleite der römischen Großbanken oder des Staates ebenso wenig zu befürchten ist wie eine Banken- oder Staatspleite in Frankreich. Weil die Regierung Berlusconi ihre Sparpolitik ebenso opportunistisch und wetterwendisch betreibt wie alles Übrige, hatte Italien Schwierigkeiten, eine Anleihe von 7,7 Milliarden Euro zu refinanzieren. Die Europäische Zentralbank (EZB) sprang ein und kaufte seit Anfang August auch massiv italienische Staatspapiere. Damit handelte sie sich den Ärger der Bundesbank und anderer Lordsiegel-Bewahrer eines geldpolitischen Dogmatismus ein. EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark ging im Streit.
Panische Angst der Deutschen
Tatsächlich hat sich die EZB in den vergangenen Monaten verändert. Sie entsagt dem Modell der deutschen Bundesbank und folgt dem Vorbild der US-Zentralbank Fed. Darüber kann sich nur ereifern, wer im ehernen Gehäuse der geld- und fiskalpolitischen Dogmen gefangen sitzt und nicht begreift: Das Schulden-Dilemma in Europa wie in den USA ist Symptom und Konsequenz einer tiefer liegenden ökonomischen Krise. Die Staatsverschuldung wurde durch milliardenschwere Bankenrettungen und Konjunkturprogramme verursacht, keinesfalls durch frivol übersteigerte Sozialausgaben.
Unübersehbar dient die panische Angst der Deutschen vor Schulden und Inflation dazu, die Nachbarländer – trotz ihrer Rolle als unverzichtbare Handelspartner – zu immer resoluterem Sparen und damit tiefer in die Rezession zu treiben. Wer den Staat, den öffentlichen Sektor beziehungsweise die real existierende (inzwischen schwer beschädigte) gemischte Wirtschaft für das eigentliche Übel hält, nutzt die Gunst der Krisenstunde, um der Utopie der reinen Marktwirtschaft ohne regulierenden Sozialstaat näherzukommen. Den unheimlichen Utopismus der herrschenden Vulgärökonomie, die Griechenland bereitwillig in die Insolvenz schicken will, sollte man in der heutigen Krisenkonstellation nicht unterschätzen.
Michael R. Krätke ist Professor für Ökonomie an der Universität Lancaster
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