Steinbrück im Glück

Ultrastabiles Deutschland Vom EU-Defizitsünder zum EU-Sparprimus - eine Farce geht zu den Akten

Beschert haben ihn uns zwei große Weltökonomen: Helmut Kohl und Theo Waigel. 1997 gelang es ihnen, mit dem so genannten Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) die finanzpolitische Direktive des Maastricht-Vertrags erheblich zu verschärfen. Bis heute gilt dieser Pakt unter Ökonomen als Machwerk von liberalen und konservativen Politikern, die ihren gesammelten ökonomischen Unverstand in Sachen Geld und öffentliche Finanzen zur verbindlichen Handlungsnorm erhoben haben. Seither regiert in der EU-Finanzpolitik der gehobene bürgerliche Stammtisch. Romano Prodi hatte als Präsident der EU-Kommission immerhin den Mut, das Regelwerk des Stabilitätspaktes als "dumm" zu bezeichnen. Nicht wenige Ökonomen stimmten ihm zu.

Gerade ging nun eine Farce zu Ende, die bundesrepublikanische Finanzpolitik jahrelang in Atem hielt. 2006 rutschte der Bundeshaushalt erstmals seit vier Jahren wieder unter die Neuverschuldungsgrenze von drei Prozent, die der Stabilitätspakt vorsieht. Zur Belohnung für braves Sparen wurde daraufhin in Brüssel das Defizitverfahren gegen Deutschland eingestellt. Herr Steinbrück warf sich in die Brust, reklamierte den Erfolg für sich und beteuerte, der Sparkurs zwecks "Haushaltssanierung" werde unvermindert fortgesetzt. Verständlich, schließlich muss der gute Mann die nächste Unternehmenssteuerreform finanzieren. Einmal in Fahrt, setzte Steinbrück noch einen drauf. Der Rat der ökonomischen Sachverständigen hatte in seinem jüngsten Sondergutachten getönt, man müsse in Deutschland für strengere Regeln in Sachen Staatsverschuldung sorgen, die alte Verschuldungsgrenze nach Artikel 115 Grundgesetz sei zu ändern, Netto- statt Bruttoinvestitionen des Bundes müssten die Höchstgrenze der zulässigen Neuverschuldung bestimmen. Peer Steinbrück findet das ganz in Ordnung, vorausgesetzt, die Finanzpolitik der Länder wird an eine ähnliche Kandare - sprich: Verschuldungsgrenze - gelegt.

Anders in Europa. Dort hat man zur Kenntnis genommen, dass inzwischen sechs EU-Staaten den Stabilitätspakt verletzt haben - Portugal, Frankreich, Deutschland, Italien, Griechenland, Niederlande -, ohne dass die Welt zusammengebrochen ist und die Eurozone einer Hyperinflation verfiel. Nichts ist passiert. Der Pakt hat Spekulationsblasen der "Neuen Ökonomie" ebenso wenig verhindert wie den großen Börsenkrach, der unweigerlich darauf folgte. Einige Länder, die wie Irland und Finnland seit Jahren Haushaltsüberschüsse aufweisen, haben deutlich höhere Inflationsraten als Defizitsünder wie Deutschland und Frankreich. Während die öffentliche Neuverschuldung in den wichtigsten Ländern der Eurozone stieg, begann der Euro seinen Höhenflug: Seit Juli 2001 erlebt der Euro-Dollar Kurs einen fast unablässigen Aufwärtstrend - es gibt erkennbar keinerlei Zusammenhang zwischen der Höhe der Haushaltsdefizite in den Ländern der Eurozone und dem Euro-Wechselkurs auf den Devisenmärkten. Freilich war der Stabilitätspakt nicht völlig wirkungslos. Weil es ihn gab, konnten die neoliberalen Ideologen Theater spielen, den Staat anklagen, Haushalts-"disziplin" (das finanzpolitische Gegenstück zu "Ruhe und Ordnung") fordern und den Weltuntergang an die Wand malen. Ein kleines Defizit-Land wie Portugal wurde abgestraft und zeigte tätige Reue, bevor die Sanktionen griffen - die Folgen der Sparpolitik waren verheerend, denn Portugal hatte mit einer harten Rezession zu kämpfen. Dem verantwortlichen Sparkommissar Barroso, der sein Land dem Dogma zuliebe in eine schwere Krise gestürzt hatte, standen fortan alle Karrieretüren offen. Deutschland und Frankreich dagegen verweigerten sich einer Oberaufsicht der EU-Kommission über ihre Finanzpolitik. Sie wehrten sich mit allen unfeinen Mitteln gegen die Arme-Sünder-Rolle im so genannten Defizit-Verfahren. Der possierliche Streit kulminierte, als 2003 die deutsche und französische Regierung mit der EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof darüber stritten, ob eine verschärfte Gangart gegen die Frevler zulässig sei. Damals hatten Deutschland und Frankreich eine Neuverschuldungsquote von 4,1 beziehungsweise 4,0 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP).

Der monatelange öffentliche Streit um die angeblich "unsolide" Haushaltspolitik der Bundesregierung hatte seinen Zweck erreicht, als die Rot-Grünen zu Kreuze krochen und versprachen, eifrig zu sparen, um alsbald wieder auf den vom Stabilitätspakt vorgezeichneten Pfad der Tugend zurückzukehren. Nebenbei versanken Binnennachfrage und Binnenwirtschaft im Sumpf der Stagnation - aber das heilige Dogma "Stabilität" war gerettet. Kanzler Schröder und seine Glaubensbrüder hatten die dauerhafte Finanzkrise, die es ihnen erleichterte, die Wende zur Agenda 2010 als unausweichliche Notwendigkeit zu präsentieren. Das Wahlvolk begann zu glauben, die Kassen seien leer - der Sozialstaat unbezahlbar.

Der Kern der Sache ist einfach: Leute wie Waigel und Steinbrück, die sich ironischerweise für Pragmatiker halten, haben ein aus Dogmen gefügtes Weltbild. Sie glauben, es gebe einen Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung und Inflationsrate - mehr Schulden, das bedeute unweigerlich mehr Inflation. Genau diesen Zusammenhang gibt es nicht, jeder Ökonom, der etwas von der Sache versteht, kann nur sagen: In einigen Fällen, etwa der Kriegsfinanzierung mit der Notenpresse, gibt es eine solche Kausalität, meistens aber nicht. Ebenso wenig gibt es einen nachweisbaren Verdrängungseffekt, nimmt der Staat den Privaten dringend benötigte Kredite weg. Diese tief verwurzelte Überzeugung beruht auf einer Kuchentheorie des Kredits, die schon im 17. Jahrhundert überholt war. Noch weniger stimmt die ständig durchgekaute Behauptung, mit Staatsschulden würden künftige Generationen belastet. Mit diesem Ammenmärchen sind die Grünen zur angeblich "soliden" Haushaltspolitik des Sparens und Kürzens bekehrt worden. Dass derlei geglaubt und zur Handlungsmaxime erhoben wird, zeigt das Ausmaß des ökonomischen Analphabetismus, der mittlerweile in der politischen Klasse herrscht. In den Niederungen der Berliner Landespolitik haben sich selbst gestandene Linke zur Pseudologik der Haushaltssanierung um jeden Preis bekehren lassen.

Es grassiert eine perverse Logik, um sich steuerpolitisch die Hände zu binden - mit dem Dogma der allzeit zu hohen Unternehmenssteuern und der gar so schädlichen Vermögenssteuer begrenzt man die staatliche Kreditpolitik gleich mehrfach: durch Verschuldungsgrenzen ohne jeden ökonomischen Sinn und Verstand. Und nicht zuletzt durch die Fixierung der Europäischen Zentralbank (EZB) auf "Preisstabilität" und Zinspolitik. Man hindert dadurch die EZB und den Staat, nach wie vor die wichtigsten Akteure auf den Finanzmärkten, aktive Wirtschaftspolitik zu betreiben. Diese Handicaps nützen niemandem - außer den privaten Gläubigern des Staates, die zugleich auch die privaten Herren der Märkte sind.


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